Ein Netz aus Herz und Seele: Kokoro – Theater Rezension

Ein Netz aus Herz und Seele: Kokoro – Theater Rezension

Foto: Thorsten Koch

Für die Premiere der Studioinszenierung von Kokoro standen am Samstagabend neun Schauspielstudierende der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt neben Ensemblemitglied Sven Brormann auf der Bühne des HLTM. In ihren Rollen verkörperten sie dabei neun unterschiedliche Menschen, deren Streben nach individuellem Glück und persönlichen Zielen die Frage aufwirft, inwiefern ihre Lebenswege von ihnen allein abhängen oder von den Momenten, in denen sie sich mit anderen verbinden. 

Ein erfolgshungriger Politiker, eine unerfüllte Ehefrau, eine ausgebrannte Schauspielerin, eine Travestiekünstlerin, ein weltentrückter Straßendarsteller, eine erfolglose Literaturwissenschaftlerin, eine traumatisierte Schwangere, eine Weltverbesserin, ein korrupter CEO – alle sind sie auf der Suche nach etwas, sie wollen irgendwo ankommen, etwas erreichen. Ihre Wünsche und Ziele treiben sie an, aber stellen sie auch vor Herausforderungen und Fragen.

Mal ganz bewusst, mal widerwillig kreuzen sich ihre Wege und lenken das Leben der anderen in neue Bahnen. Erst nach und nach ergibt sich für das Publikum ein Geflecht aus Beziehungen, durch das ihre Leben teils lose und teils eng miteinander verwoben sind. 

Mit viel Feingefühl und Humor erzählt Autorin Nino Haratischwili eine Geschichte zwischenmenschlicher Beziehungen und individueller Herausforderungen und verknüpft dabei ganz selbstverständlich Persönliches und Universelles, Politisches und Privates. Denn so eigenartig und verschieden ihre Figuren auch sind, verkörpern sie alle Erfahrungen und Gefühlswelten, in denen man sich selbst oder die Menschen in den Reihen um sich herum wiederfinden kann. Das Publikum muss am Ende selbst entscheiden: Begegnen sich die Figuren zufällig oder ist ihr Aufeinandertreffen vom Schicksal bestimmt? Handeln sie mit Absicht solidarisch oder sind sie doch stets auf ihren eigenen Gewinn aus?

Zwischenräume

In dynamischen, fließend ineinander übergehenden Szenen finden die Begegnungen statt. Das Stück lebt von der Bewegung der Figuren, die sich stets in Zwischenräumen befinden. Sie begegnen sich im Treppenhaus, im Vorübergehen auf der Straße oder am Rande einer Veranstaltung. Dennoch wird nie ganz klar, in welchen räumlichen Verhältnissen zueinander sich diese Orte befinden, denn sie könnten sich genauso auch vor der eigenen Haustür befinden. 

Die Unbestimmtheit der Orte wird besonders im Bühnenbild deutlich. Durch kreisrunde Tore bewegen sich die Schauspielenden wie selbstverständlich hindurch oder verweilen in ihnen, wie auf einer Türschwelle. Die Inszenierung verlangt von den Studierenden dabei ein bemerkenswertes Spektrum an Bewegungen, Emotionen und stimmlicher Leistung. Mitreißend, gefühlvoll und originell erwecken sie ihre Rollen zum Leben. In berührenden, bitteren und heiteren Momenten gelingt es ihnen, dem Publikum die Figuren, ihre Wünsche, Träume und Beziehungen offenzulegen und mit ihnen mitzufühlen.

Mit ‚kokoro‘ wird im Japanischen das Gemüt eines Menschen, die Einheit aus Herz, Geist und Seele bezeichnet. Gerät kokoro aus dem Gleichgewicht, so gerät auch die Welt aus den Fugen, so wird es im Stück beschrieben. Schlussendlich schafft es das Stück, die Lebensstränge der vielen unterschiedlichen Figuren zu einem feinen Netz zusammenzufügen, das zeigt, wie herausfordernd es sein kann, diese Balance zu bewahren. Es bietet eine feinfühlige Reflexion über die Frage, wie die Knotenpunkte, die in Beziehung zu anderen entstehen, unsere Leben beeinflussen. 

(Lektoriert von jok und nir.)

studiert Soziologie im Master, wenn sie nicht gerade in Marburgs Cafes Kaffee trinkt oder irgendwo auf Reisen ist.

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