Sneak-Review #257: Einübung in die Minimalempathie ODER Taxonomische Taxi-Tortur

Sneak-Review #257: Einübung in die Minimalempathie ODER Taxonomische Taxi-Tortur

Bild: J. Kiritsis

Regisseur Tobi Baumann erzählt mit 791 km einen Road-Trip-Film als gesellschaftsanalytische Figurenodyssee mit humoristischen Schlaglöchern und zu vielen moralischen Abkürzungen.

791 km ist eine dieser deutschen Drama-Komödien. Ohne klare Beispiele für diese Art Film anführen zu können, fühlt sich 791 km dennoch auf merkwürdige Weise vertraut und bekannt an. Er steht für eine Manifestation des gegenwärtigen, deutschen Films, die sich bei mir über die Jahre und auch bei nur beiläufiger Aufmerksamkeit verfestigt hat. Beispielfilme dafür, dass deutsche Filme eher ignoriert werden sollten. Sie sehen fast immer wie überproduzierte Fernsehfilme aus und fühlen sich an wie unausgereifte Theaterstücke. Kann sich 791 km gegen diese Vorurteile durchsetzen oder versinkt er darin? Liegt das Problem viel eher in meiner Wahrnehmung, die sich nur das raussucht, was sie bereits erwartet? 

Gegenwartsdeponie

Nachdem aufgrund eines im Film nicht weiter gezeigten Sturmes alle Züge der Deutschen Bahn ausfallen – wie sollte ein deutscher Film auch sonst beginnen? – sammelt sich eine Gruppe unterschiedlicher Figuren um das Taxi von Joseph (Joachim Król). Zufälligerweise müssen sie alle von München nach Hamburg. Schon ist die Situation gegeben für ein Kammerspiel auf vier Rädern, einem Road-Trip-Film mit Ensemble-Cast. Die Dramatis Personae sind dabei: der eben erwähnte grimmige, ältere Taxifahrer Joseph, die ältere, ehemalige Linguistikprofessorin Marianne (Iris Berben), die zunächst sehr stille Susi (Lena Urzendowsky) und ein zerstrittenes Paar bestehend aus Tiana (Nilam Farooq) und Philipp (Ben Münchow). Die Figuren sind natürlich so gebaut, dass ein maximales Diskussionspotential ausgeschöpft werden kann, sie bei vielen der Gesprächsgegenstände genau entgegengesetzte Positionen vertreten und dadurch aushandeln können. Regisseur und Co-Drehbuchautor Tobi Baumann – primär im Comedy-Bereich durch Kollaborationen mit Bastian Pastewka und als Regisseur von Stumpf-Comedies wie, äh, Der Wixxer (2004) bekannt – inszeniert diese Gespräche gekonnt abwechslungsreich trotz der Begrenzung auf das Taxi. Der Rhythmus aus Halbnah- und Nahaufnahmen sowie Figurenpositionierung funktioniert und wird von Außenperspektiven und kurzen Umgebungswechseln aufgelockert.  

In dieser Inszenierung rast der Film durch zahlreiche gesellschaftlich relevante Themen und bleibt dabei einer oberflächlichen Aktualität verschrieben. Von ‚Montagsspaziergängen’ bis hin zu Klimagerechtigkeit und Elon Musk muss anscheinend alles dabei sein. Etwas Substanzielles haben die Figuren über diese Themen nicht zu sagen, sie werden lediglich in den Gesprächen kurz erwähnt und noch kürzer eingeordnet. Viele der Unterhaltungen wirken dadurch forciert zeitgenössisch, so als ob eine Themenliste der Gegenwart stichpunktartig abgearbeitet werden müsste. Vielleicht erhoffte sich 791 km dadurch an Brisanz und Relevanz zu gewinnen, ein Brennglas gegenwärtiger Themen zu werden. In der Umsetzung wird er dadurch aber nur überraschend identitätslos, weil er diesen Trends folgt, ohne sie wirklich aufzugreifen und eigenständig zu kommentieren.

Das, obwohl es ihm an anderen Stellen gelingt, interessante Vorurteile seiner Figuren herauszuarbeiten. So etwa die unterschwellige Ignoranz gegenüber unterdrückten Stimmen angesichts einer scheinbaren Progressivität. Tiana ist in Hamburg geboren und aufgewachsen, ihre Eltern, die sie nie kennengelernt hat, stammen aus dem Iran. Da 791 kmnatürlich auch ‚Herkunft’ behandeln muss, wird auch diskutiert, was das für Tianas Identität bedeutet. Marianne, die sich als fortgeschrittene Denkerin versteht, unterbricht Tianas Aussagen jedoch wiederholt, um ihre eigenen Erfahrungen mit der, wie sie sie nennt, „persischen” Kultur zu teilen, auf die Tiana sehr stolz sein sollte. Eine Form der Weltoffenheit wird so zum Werkzeug einer Exotisierung, die die eigentliche Geschichte der betroffenen Person völlig ignoriert. Der Film kommentiert das Verhalten Mariannes nicht, sondern spielt es als figurenbezeichnendes Muster immer wieder ein. 791 km schafft es also nur da, präzise Beobachtungen über seine Figuren als Symbole spezifischer Gesellschaftsschichten zu machen, wo er sie nicht durch das besprochene Thema definiert, sondern über die Art, mit der sie darüber sprechen. Eine Ebene, die in großen Teilen des Filmes fehlt. 

Menschen vom Fließband, Wohlgefallen aus der Dose

Vielleicht weiß ich auch einfach nicht, was eine wirklich gute Figur ausmacht. Das Zusammenspiel aus Drehbuch, Performance, Inszenierung und Schnitt? Zu ungenau. Ein Gefühl von Lebendigkeit, das plötzlich aufkommt? Auch unpräzise. Die Figuren in 791 km wirken jedenfalls nur wie konstruierte Ansammlungen an Meinungen und Problemen. Sind das aber nicht alle Figuren, irgendwie? Möglich, aber es ist trotz der soliden schauspielerischen Leistung aller Beteiligten schwierig, hinter ihren Performances nicht die Gesetztheit des Drehbuchs zu sehen, die sauber voneinander getrennten Argumentationsläufe, das Pro und Contra. Dazu noch die Typenstruktur jeder einzelnen Figur: Joseph als harter, vergangenen Vorstellungen anhängender, aber letztendlich weicher Taxifahrer, Marianne als scheinprogressive Intellektuelle, Tiana als Vorzeigemigrantin, Philipp als Verantwortung meidender, unentschlossener Nerd. 

Und Susi. Susi beginnt erst im Verlauf der Fahrt mit den anderen zu reden, sich ihnen zu öffnen. Dabei wird deutlich, dass sie neurodivergent ist, was der Film zunächst, nach meinem begrenzten Wissen, empathisch in sein Handlungsgefüge einbaut. Um sie, laut dem Film, aber wirklich verstehen zu können, ist es wichtig, ihre Vergangenheit zu kennen, die 791 km in Form eines in einer ungebrochenen Nahaufnahme gefilmten Monologes inszeniert. Susis Vergangenheit ist traumatisch. Dass dieses Trauma gleichsam als Schlüssel für die Figur fungiert, wirkt zu konstruiert und gleichzeitig zu einfach gedacht. Als narrative Entscheidung wirkt es dennoch unausgewogen und unpassend. Natürlich sollten solche Erfahrungen auch in Filmen behandelt werden, sie aber so betont zu dramatisieren führt dazu, dass sie zu einem bloßen Handlungselement verkommen, zu einem weiteren Baustein eines überstrukturierten Drehbuchs. 

In seiner zweiten Hälfte driftet 791 km völlig in den Kitsch eines deutschen Wohlfühlfilms ab. Die wichtigsten Themen wurden besprochen, die Figuren kennen einander gut genug. Nun gilt es, Probleme zu lösen, das Leben zu glätten. In allzu braven – weil überaus plötzlichen – Wendungen verpuffen die Konflikte der Figuren nacheinander, um einer simplen moralischen Botschaft zu weichen: Wenn wir alle nur miteinander reden würden, könnten wir all unsere Probleme lösen. Eine Lösung, die nur zu einer Welt passt, die sich auf Individuen fokussiert, ohne Systeme oder gesellschaftliche Strukturen, die diese Individuen beeinflussen. Eine Lösung, die sich auf den Innenraum eines Taxis beschränkt, das an der Welt vorbeifährt. 

Stockholm-Syndrom im Taxi oder Hass auf die Deutsche Bahn: 791 km wurde zu 75 % positiv und zu 25 % negativ bewertet. 

(Lektoriert von hab und bjr.)

ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 23 Jahre alt.

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