Eines Abends, Baby: Julia Engelmann in Marburg

Eines Abends, Baby: Julia Engelmann in Marburg

Fotos: Rieke Johannes

Julia Engelmann tritt heute Abend mit ihrem neuen Album Splitter in Marburg auf und ich bin dabei. Ein lauer Spätsommerabend im September. Die Vögel fliegen tief durch die Stadt, der Himmel verfärbt sich langsam von blau zu rosa und der Asphalt ist noch von der Sonne gewärmt, als ich am Erwin-Piscator-Haus ankomme. Davor steht bereits eine größere Ansammlung von Menschen, ich schätze sie auf Mitte dreißig bis Ende fünfzig, alle haben sich schick gemacht. Bunte Sommerkleider oder aufgeknüpfte Hemden tragend, das Sektglas in der Hand, stehen sie draußen an kleinen Tischen und unterhalten sich.  

Der große Durchbruch auf YouTube

Julia Engelmann kennen die meisten wahrscheinlich aus dem für heutige Verhältnisse verpixelten YouTube-Video von 2014, in dem sie vor Publikum einen Poetry-Slam-Text vorträgt, der den Titel „Eines Tages, Baby…“ trägt. Dort verarbeitet sie den Song „One Day / Reckoning Song“ von Asaf Avidan & the Mojos und macht daraus einen Aufruf, mehr im hier und jetzt zu leben, weniger aufzuschieben, denn „…eines Tages werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.“ Das Video ging viral und hat bis heute rund 14 Millionen Aufrufe auf YouTube erreicht. Was darauf folgte war eine Reise durch die deutsche Medienlandschaft. Von Talkshow zu Talkshow, Interviews im Feuilleton und Radio brachten ihr genug Aufmerksamkeit, um aus einem Hobby einen Beruf zu machen. Ihr Psychologiestudium brach Engelmann ab. Stattdessen zeigte sie, was sie – außer auf Poetry-Slam-Bühnen auftreten – noch alles kann: Bücher schreiben, acht an der Zahl, einen Podcast (Club der stillen Poet:innen) gründen, derzeit pausiert er, und singen, unter anderem heute Abend. Splitter ist bereits das zweite Album von Engelmann, das erste Poesiealbum bekam eine Nominierung für den ECHO. 

Es klingelt und ich gehe rein, suche meinen Platz im abgedunkelten Saal. Nachdem die Sängerin Revelle das Publikum mit ihren melancholischen Liedern eingestimmt hat, betritt Julia Engelmann die Bühne und der Abend beginnt. Ein Abend, „…an dem es generell viel um Gefühle geht“, wie Engelmann bereits zu Beginn erklärt. Und sie hält ihr Wort. Was folgt sind etwa 90 Minuten vollgepackt nicht nur mit Liedern ihres neuen Albums, sondern auch Poetry-Slam-Texten, der Zug fährt auf emotionalen Schienen und holt mich immer wieder ab. Dabei fand ich Poetry Slam oft eher cringe, das übertriebene Leiden in der Stimme beim Vorlesen oft anstrengend. 

Fragen und Antworten 

Es geht um Familie, Texte für Engelmanns Mutter, Vater, Hund und, ja, zuletzt schafft auch der Bruder es noch Gegenstand einer Lobeshymne zu werden. Damit das nicht zu viel wird, das Publikum und ich zwischendurch durchatmen können, finden auch humoristische Brüche statt. Ein Text über die sich in Engelmanns Sprachgebrauch langsam eingeschlichenen Anglizismen zum Beispiel, der in Form eines Raps vorgetragen wird. Das Publikum lacht nicht nur einmal. 

Der Serviceteil des Abends, wie Engelmann ihn nennt, besteht aus einer Fragerunde, in der Menschen aus dem Publikum ihr Fragen stellen können, ganz egal was. Meine Sorge, niemand würde sich trauen etwas zu fragen, wird zum Glück nicht Realität. Stattdessen wird Engelmann gefragt, ob es nicht schwierig sei, auf großen Bühnen aufzutreten, wo sie doch eigentlich introvertiert sei, wie sie im Verlauf der Show bereits hat verlauten lassen. Man gewöhne sich daran, so Engelmann, die Freude über die Begegnungen mit den Menschen überwiege. Außerdem war sie vor allem in der Schule schüchtern gewesen, Vorlesen vor der Klasse wäre für sie die Hölle gewesen. Was ihre Lieblingsfrage sei, fragt jemand anderes und der Serviceteil endet mit einem Dank an Engelmann, denn die Person aus dem Publikum habe sich nur ihretwegen getraut, selbstgeschriebene Texte vorzulesen. 

Tanzen zwischen den Stuhlreihen

Gegen Ende wird die Schwere des Abends in Energie umgewandelt: Beim letzten Lied von Engelmann stehen alle auf, klatschen und tanzen, zumindest so viel wie in den Stuhlreihen möglich ist. Auch ich lasse meinen Notizblock Notizblock sein, lege ihn hinter mir auf meinen Stuhl und stehe auf, klatsche und tanze so viel wie eben möglich ist. Der Abend endet mit Standing Ovations.  

Als ich nach draußen trete ist es dunkel, die Wärme des Tages verflogen, den Herbst kann ich riechen. Ich fahre nach Hause und denke währenddessen an Engelmanns berühmtesten Text, an die Zeilen „ich denke zu viel nach und warte zu viel ab, ich nehme mir zu viel vor, und ich mach davon zu wenig“. Ganz schön viel Gefühlsduselei für einen Abend.

(Lektoriert von hab, let und jok.)

ist seit Februar 2023 Teil der Philipp Redaktion. Studiert den Master Literaturvermittlung in den Medien. 24 Jahre alt.

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