Sneak-Review #249: Polite Society

Sneak-Review #249: Polite Society

Als das Regiedebüt der britischen Regisseurin und Skriptautorin Nida Manzoor ist Polite Society (2023) eine Fusion verschiedener Genres und beruft sich auf viele weitere Filme. Dadurch ist es ein Film, den man schon hundertmal gesehen hat und gleichzeitig ein Film, den man noch nie gesehen hat und macht dabei wirklich Spaß. 

„I. Am. The Fury!“. Eisern spricht Ria Khan in die von ihrer Schwester Lena gehaltene Handykamera, bevor ihr gewagter Versuch eines Spin-Kicks missglückt und sie unsanft auf dem Boden landet. Lena, die zuvor noch mit großer Anstrengung aus dem Bett gezerrt werden musste, um das Video aufzunehmen, versichert Ria nun, dass es trotzdem „dope“ aussah, und beim nächsten Mal ganz sicher funktioniert. 

Das Herz der Action-Komödie Polite Society sind diese beiden Schwestern. Ria (Priya Kansara) ist eine pakistani-britische Schülerin, die komplett eingenommen ist vom martial arts-Training und ihren großen Träumen. Ihre ältere Schwester Lena (Ritu Arya) hat hingegen kürzlich die Kunsthochschule geschmissen und ist sich unsicher, was sie nun mit ihrem Leben anfangen soll. Auch wenn sie zunächst als eher unnahbar dargestellt wird (in ihrer ersten Szene kauft sie sich ein ganzes Brathähnchen und verspeist es auf der Straße), wird bald klar, wie nahe sie ihrer Schwester steht und wie sehr sie einander brauchen.

Ria ist fest davon überzeugt, dass Lena sich wieder aufraffen muss, um Künstlerin zu werden. Dass Lena allerdings beginnt mit dem reichen Arzt Saleem auszugehen und zwischen den beiden eine Ehe arrangiert wird, passt ihr gar nicht. Sie setzt also zusammen mit ihren zwei besten Freundinnen alles daran, die Hochzeit zu verhindern, denn wie bald klar wird, braucht Ria Lenas Selbstverwirklichung, um auch an ihre eigene glauben zu können. 

Gegenwind bekommt sie dabei nicht nur von ihrer Familie, sondern auch von Saleems Mutter Raheela (Nimra Bucha). Es stellt sich heraus, dass sie ganz andere geheime Ambitionen hat, die Lenas Leben gefährden. In einer klassischen girl who cried wolf-Manier glaubt Ria aber natürlich keiner und es liegt nun an ihr, mit ihren Freundinnen Alba und Clara (Ella Buccholeri; Seraphina Beh) und martial arts-Künsten den Tag zu retten. 

Kick It Like Eunice

Rias großes Vorbild ist die Stuntfrau Eunice Huthart. Sie träumt davon, selbst Stunt-Woman zu werden und trainiert fleißig verschiedenste Kampfkünste, die ihr in Form waghalsiger Stunts – größtenteils selbst von Newcomerin Priya Kansara ausgeführt – im Laufe des Films zugutekommen. Wie einst Jess Bhamra in Kick It Like Beckham (2002) hängt sie sich auch Poster von ihrem Idol über ihr Bett und versucht, ihr nachzueifern anstatt sich von den Erwartungen ihrer Familie beeinflussen zu lassen. 

Kick It Like Beckham ist allerdings nicht der einzige Film, dem Polite Society ähnlich ist. Der Film kombiniert dabei nicht nur verschiedene Genres, sondern übernimmt zum Beispiel auch den trockenen Humor eines Edgar Wright-Films, das Drama und den Soundtrack eines alten Bollywood-Klassikers sowie Kill Bill oder Jackie Chan inspirierte Actionszenen. Wie jeder gute englische Film ist er natürlich zusätzlich voller Referenzen auf die große Nationalliteratur. So gibt es Anspielungen auf Autoren wie Charles Dickens und George Orwell, ein Schwesternbündnis und die determinierte Titelheldin eines Jane Austen Romans und eine klassische 5-Akt-Dramenstruktur wie bei Shakespeare. 

Ein Filmdebüt der Weisheit und des Unsinns

Inmitten der ganzen Anspielungen verliert sich der Film – vor allem in der Mitte – ein wenig selbst aus den Augen. Es folgt ein chaotischer Plot Twist auf den nächsten, die teilweise aufgrund des hohen Wiedererkennungswert sehr vorhersehbar sind, an anderen Stellen jedoch sind sie so absurd, dass dadurch ein ganz eigener Humor entsteht. Auch sogenannte tropes werden verstärkt ausgenutzt. In einer heist-Szene haben Ria und ihre Freundinnen für jede Situation das passende Equipment dabei (von Mini-Ohren-Funkgeräte bis zu einem Enterhaken) und Clara kann sich natürlich in jedes System einhacken. In einer Kampfszene, in der sich Ria und Lena gegenseitig durch die Zimmertüren hauen, wird zu den Eltern geschnitten, die ein Stockwerk darunter seelenruhig dem Lärm zuhören. Sehr selbstreferenziell bemerkt Alba an einer Stelle: „There’s a reason that tropes are tropes, because they work!” Sie hat nicht Unrecht. 

Obwohl viele dieser Motive den Film vorhersehbar machen, machen sie ihn dadurch nicht uninteressant. Viele der tropes werden bewusst auf den Kopf gestellt oder verdreht. Anstatt dass die anzugtragenden schnurrbärtigen Männer mit einem Glas Brandy in der einen und der Times in der anderen Hand in ihren Ohrensesseln im rauch-durchwaberten Gentlemen‘s Club sitzen und ihre neusten Geschäftsideen diskutieren, sitzen die pakistani-englischen Mütter beim high tea um einen Tisch mit petit fours und Teeküchlein und besprechen angeregt die Zukunft – und vor allem die Heiratsaussichten – ihrer Kinder. Anstatt dass der Bond-Bösewicht mit technischen Gerätschaften die Wahrheit aus dem Helden herausfoltert, setzt Raheela auf die schmerzhafte Methode der Haarentfernung durch heißes Wachs, was sich als deutlich effektiver erweist. Durch Szenen wie diese kreiert Polite Society seinen ganz eigenen Stil und ist vor allem eins: superlustig. Das wird verstärkt durch eine Tarantino-ähnliche Nutzung von riesigen Schriftzügen, ein harmonisierendes Zusammenspiel von Schnitt und Kameraführung, eine dynamische Farbgebung und einem sehr guten Soundtrack. 

„Behind every great man is a really tired mother”

… sagt Raheela in jener Wax-Szene. Dass die Frauen „hinter“ den Männern stehen, ist in dem Film allerdings kaum bemerkbar. Jede zentrale Figur ist dreidimensional geschrieben und gespielt, sodass man ihre Motivationen und Eigenarten gut nachvollziehen kann. Und – das ist nicht zu vernachlässigen – jede zentrale Figur ist weiblich. Das allerdings, ohne dass es groß auffällt oder dass es Figuren in irgendeiner Weise einschränkt oder beeinflusst. Ria geht zum Beispiel auf eine Mädchenschule, was sie und ihre Mitschülerinnen allerdings nicht davon abhält, in den Pausen epische Prügeleien anzuzetteln. Die „Polite Society“ des Films spielt sich ausschließlich in einem Netzwerk von emigrierten Engländerinnen ab, die bei Festen wie der „Eid Soirée“ ihre Kulturen miteinander verschmelzen und im Hintergrund die Fäden in ihren Familien ziehen. Die männlichen Figuren, nennenswert sind nur Papa Khan und Lenas Verlobter Saleem, nehmen nur marginal Einfluss auf die Handlung und verstecken sich dabei auf sehr sympathische Weise hinter „ihren“ Frauen. Einen umgekehrten Bechdel-Test würde der Film jedenfalls nicht bestehen. 

Da alle um mich herum beim Rausgehen auf „++“ gedrückt haben, kommt das SneakOMat Ergebnis für mich überraschend: Polite Society wurde von den Kinobesucher:innen zu 60% positiv und 40% negativ bewertet. 

(Lektoriert von hab und jok.)

ist 23 Jahre alt und studiert Literaturvermittlung in den Medien, sieht sich selbst aber immernoch als Anglistin. Sie weiß nichts über vieles, aber alles über Jane Austen.

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