Wieso nicht nur K.I.Z. „Urlaub fürs Gehirn“ glorifiziert: Lesung von Sarah Diehl

Wieso nicht nur K.I.Z. „Urlaub fürs Gehirn“ glorifiziert: Lesung von Sarah Diehl

Es ist einer dieser Abende, an dem es schon um 17 Uhr dunkel ist. Um die 35 Frauen versammeln sich in dem kleinen Cafeteria-artigen Raum im Technologie- und Tagungszentrum. Während die Autorin vorne an ihrem Tisch sitzt und die eintretenden Menschen beobachtet, wird klar, dass heute höchstwahrscheinlich nicht mehr als drei oder vier Männer anwesend sein werden. Vielleicht liegt das daran, dass Frauen die Ermutigung Sarah Diehls eher benötigen als Männer?

Die Freiheit, allein zu sein ist das erzählende Sachbuch, aus dem Diehl an diesem vom Marburger Literaturforum organisierten Abend vorliest. In ihrem zuvor erschienen Buch dieser Art, Die Uhr, die nicht tickt, thematisierte Diehl, wie das Reden über eine ‚biologische Uhr‘ Frauen unter Druck setzt und aus welchen Gründen sich Frauen für ein kinderloses Leben entscheiden. Beide Werke lassen erkennen, dass die 45-Jährige neben dem Publizieren und Schreiben als feministische Aktivistin tätig ist. Sie gründete beispielsweise gemeinsam mit polnischen Aktivistinnen Ciocia Basia, eine Organisation, die Frauen in Polen dazu verhilft, auf deutschem Boden legal und sicher abzutreiben. Abtreibungen sind in Polen illegal. Das verleitet oft zu lebensgefährdenden Alternativmaßnahmen.

Menschen, die als Frauen und Männer sozialisiert werden, würden das Alleinsein verschieden erleben, so Sarah Diehl. Männern werde es zum Beispiel eher ‚erlaubt‘ – und vielleicht beigebracht – allein zu sein. Unterschiedliche Sozialisation also: Diehl schreibt, dass Frauen „das selbstbestimmte Alleinsein weniger zugestanden wird, weil unser Frauenbild vorgibt, dass sie sich mit unbezahlter Fürsorgearbeit mehr um die Bedürfnisse anderer kümmern sollen.“ Sie bezieht sich dabei unter anderem auf Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein (1929), in dem diese bereits erkennt, dass Frauen Räume für sich bräuchten, um ungestört arbeiten, schreiben, kreativ sein und erfolgreich werden zu können.

Ich fühle mich um weibliche Vorbilder betrogen“

Diehl liest vor, dass Frauen sich heute noch zu oft in Bezug auf Andere (Familie, Kinder, Ehemänner) identifizieren. Das zeige auch die Literatur und der Film. Frauenfiguren würden häufig bloß in ihrer Beziehung zu Männern dargestellt werden. Das Leben außerhalb von Hetero-Liebesbeziehungen – Frauenfreundschaften, lesbische Liebesbeziehungen oder Mutter-Tochter-Geschichten – sei immer noch wenig in der Kunst sichtbar. Zudem sei über viele Frauen lange gar nicht bekannt gewesen, wenn sie an breit rezipierten Werken mitgearbeitet haben. Noch nicht lange wisse man beispielsweise, dass viele lediglich als ‚Musen‘ der Ehemänner bekannte Frauen relevante Lektorinnen, Kritikerinnen und Co-Autorinnen der Werke ihrer berühmteren Männer waren. So nennt Diehl in ihrem Buch Bertolt Brecht als Beispiel, der einige Werke ausschließlich unter seinem Namen veröffentlichte, die Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau und Margarete Steffin gemeinsam mit ihm verfasst haben. Diehl sagt: „Ich fühle mich um weibliche Vorbilder betrogen“ – und das käme unter anderem zustande, weil Frauen keine Räume für sich und nur wenig Alleinsein zugestanden wurde.

Urlaub fürs Gehirn

Bevor Diehl das nächste Kapitel vorliest, kündigt sie an: „Jetzt kommt etwas Schönes nach dem ganzen Frust.“ Das Publikum lacht. Neben mir ist eine Frau am Handy, sonst sind alle Blicke nach vorne gerichtet.

Alleinsein könne helfen, weniger auf sich selbst bezogen zu sein, sich weniger wahr und wichtig zu nehmen, liest Diehl. Alleinsein sei daher nicht gleichbedeutend mit Egoismus oder Egozentrik, sondern sei Urlaub – der Song „Urlaub fürs Gehirn“ könnte einem an dieser Stelle in den Sinn kommen, den die deutsche Gruppierung K.I.Z. 2011 produzierte.

Statt wie bei K.I.Z. „gähnende Leere hinter meiner Stirn“ bedeutet der Urlaub bei Diehl Pause von der dauernden und „störenden Selbstwahrnehmung“: In Gesellschaft beobachte und kontrolliere man sich konstant selbst, „wie man agiert, ob man etwas Schlaues sagt oder Peinliches tut.“ Dieser ewige Strudel an Gedanken, der einen kritisiert, verfliege, sobald man allein ist. „Wenn man allein ist, hat man Urlaub vom Monitoring des eigenen Auftretens“, liest Diehl.

Im Gegensatz zu vielen habe sie früh gelernt, Alleinsein aktiv sowie positiv zu gestalten und dadurch genießen zu können. Sie verbrachte ihre Jugend auf dem Dorf und sei da, wie viele Kinder, zum Alleinsein gezwungen worden. Sie sei heute sehr froh über diese in ihrer Jugend erlernten Fähigkeiten. Dabei betont sie, dass Alleinsein bei ihr nicht gleichzusetzen sei mit dem geläufigen Verständnis von Einsamkeit. Sozial isoliert zu sein, entspreche der Einsamkeit eher. Diehl beschäftigt sich jedoch mit dem selbstbestimmten Akt des Alleinseins, ohne dass Einsamkeit dabei zwingend Thema wäre. Wichtig dabei sei, betont sie, dass Alleinsein dosiert werden könne – dass man allein sein kann, aber nicht muss. Alleine sein zu wollen und das auch in Partnerschaften einzufordern, sei gesund.

Diehl sei zum Beispiel eine Woche lang mit dem Fahrrad und ihrem Freund durch Tirol geradelt, um daraufhin weitere Wochen allein weiterzufahren. Die ersten zwei Tage ohne Partner wären herausfordernd gewesen. Das sei wichtig zuzugeben, betont die Autorin, dass auch ihr das Alleinsein nicht immer leichtfällt. Sie lerne dabei zum Beispiel, warum es ihr schwerfällt, die ersten Tage in Tirol ohne Freund an ihrer Seite zu bewältigen. Welche Bedürfnisse erfüllt ihr Partner, die sie sich in dem Moment nicht selbst erfüllen kann, sei so eine Frage, die sie sich dann stellt.

Verbunden im Alleinsein

Während dieser Reise begegnete sie einem Mann, der von einer existentiellen Grundeinsamkeit in seinem Leben ausging: Wir würden allein geboren werden und genauso sterben – Sarah Diehl bietet Menschen wie ihm an diesem Abend eine alternative Sicht auf das Alleinsein an. Eine Perspektive, mit der sie Alleinsein als produktiv für die Beziehung zu sich selbst wahrnehmen können. „Ich fühle mich im Alleinsein aufgehoben, weil ich von einer Verbundenheit ausgehe“, sagt sie. Wenn die Prämisse ist, dass eine Verbundenheit zu anderen Menschen ohnehin vorhanden sei, kann Diehl das Alleinsein ohne Sorge genießen. Allein sind wir alle ab und zu und vielleicht sind wir ja auch deswegen verbunden?

Diehl ist davon überzeugt, dass Partnerschaften besser funktionieren, wenn von dieser prinzipiellen Verbundenheit auch im Alleinsein ausgegangen werde. Wenn die Verbundenheit nämlich nicht prinzipiell bestehe, fühle man sich vereinzelt. Dann trachte man nach der Verbundenheit zur Außenwelt und suche sie ausschließlich im Partner oder in der Partnerin. Der Anspruch an die Liebesbeziehung ist dann so gewaltig, dass Partnerschaften daran zerbrechen – „das ist zu viel für eine Person“, so Diehl. Die Lesung sollte bis 21 Uhr andauern. Es ist 21:16 und noch ist niemand gegangen.

Tochter, Mutter, Ehefrau – wo bleibt der Rest des Ichs?

Nach der Lesung unterhalte ich mich mit zwei Besucherinnen. Wir sind alle Mitte 20. Die Lesung führte zu einigen neuen Erkenntnissen – ein paar harte Fakten über vergessene Autorinnen, die Frauenbewegung und die Philosophie des Alleinseins. Die Auffrischung der Lektüre von Ein Zimmer für sich allein kann auch nicht schaden.

Viele der feministischen Gedanken waren einem jedoch bereits in der ein oder anderen Form in Literatur, Musik, Film und Social Media begegnet. Das ist keine negative Kritik. Sarah Diehl hat es an diesem Abend und insbesondere in ihrem Buch geschafft, verschiedene feministische Diskurse zusammenzuführen. Sie hat viele unserer alltäglichen, aber zusammenhangslosen Gedanken mit einem roten Faden zusammengenäht, der zu großen Teilen auch auf historischen Begebenheiten und Figuren basiert. Angeregt hat sie die anderen Zuhörer*innen anscheinend auch: In der Diskussionsrunde wollten mehr Menschen Fragen stellen, als es die ohnehin ausgelaufene Zeit zuließ.

Eine Person, der das Mikro gereicht wurde, war eine junge Mutter. Es sprudelte nur so aus ihr heraus: Dass sie zwei Kinder hat und dass sie sich zwischendurch als Mutter wie ein „Lappen“ gefühlt habe, der herumgereicht wird. Alle wollten auf sie zugreifen. Ihr Partner habe das und ihr Bedürfnis nach dem Alleinsein verstanden. Problematisch war ihr weiteres Umfeld, ihre Eltern zum Beispiel. Irgendwann habe sie es nicht mehr ausgehalten. Sie sei „einfach abgezischt“ – ab in den Zug nach Husum. Während der Fahrt klingelte ihr Handy unentwegt. Ihre Eltern fragten sie, ob sie sich scheiden lassen wolle. Wollte sie nicht – „ich wollte einfach ich sein“. Sie betonte den Wunsch, ihr Bedürfnis nach Alleinsein nicht erklären zu müssen. Warum auch?

(Lektoriert von nirjok und hab.)

studiert im Master 'Soziologie' und 'Literaturvermittlung in den Medien'. Seit 2022 in der Redaktion sowie im Lektorat aktiv und seit Januar 2023 Chefredaktion von PHILIPP.

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