Theater Review #31 Der Liebhaber
In der Waggonhalle dreht sich an diesem Abend alles um ein Ehepaar, das seinen Sex ausschließlich außerhalb der Ehe auslebt. Regisseur Matze Schmidt inszeniert Harold Pinters Der Liebhaber als 70-minütiges Schauspiel, das dösende Gemüter mehrjähriger Beziehungen aufrüttelt.
Indem Ehemann Richard (Dietrich Faber) regelmäßig nach der Arbeit sein Haus als Max verkleidet betritt, also als die Affäre seiner Frau Sarah (Magdalena Kaim), entspinnt sich ein Fetisch. Abends berichtet sich das Ehepaar gegenseitig von ihren sexuellen Ausflüchten des Nachmittags. Die beiden bleiben dabei ihrem Rollenspiel verhaftet und tun so, als hätten sie jeweils eine andere Person getroffen. „Ganz gewöhnliche ordinäre Hure, die mir entweder ge- oder missfällt“, so beschreibt Richard seiner Sarah mit welchen Frauen er ihr fremdgeht. Die Liaison läuft schon fast so lange wie die Beziehung selbst – zehn Jahre Zweisamkeit mit fiktiven Liebhabern, die in diesem Bühnenstück ein Ende findet.
Publikum als Voyeur
Liebhaber und Ehemann werden von Faber gespielt und durch Symboliken trennscharf kontrastiert: Richard im grauen Anzug ohne Techtelmechtel mit seiner Frau, er hat höchstens einen lieblosen Kuss für sie übrig, ihre Gespräche sind geprägt von ausdruckslosen Gesichtern und Spirituosen; Max hingegen im Leinenhemd mit lässigem Lächeln, streichelt zärtlich mit seinen Fingernägeln auf dem gespannten Leder der Trommel, die als Requisite erotische Szenen untermalt. Mit dumpfen Trommelschlägen bereitet Max seine Geliebte auf das Abenteuer des fiktiven Fremdgehens vor. Bei jedem Schlag zuckt und kichert die vergebene Frau erregt. Zwei Liebende, gefangen im Kreislauf des ehelichen Alltages, der ihre Lust nicht befriedigt; was ihnen fehlt, suchen sie bei sich.
Im Laufe des Stückes verschmelzen die vorher so strikt getrennten Rollen Liebhaber und Ehemann kontinuierlich, es entsteht eine neue Phase der Affäre. Der Anzugträger entdeckt die Trommel des Geliebten. Richard zeigt sich unzufrieden und raunt seiner Frau „Schlampe“ ins Ohr. Er wünscht sich nun das Sexleben mit seiner Frau zurück. Auch als Liebhaber äußert sich diese Unzufriedenheit, er weist seine Geliebte ab, weil sie „zu knochig“ sei. Ehemann und Liebhaber beneiden sich gegenseitig, sie wollen die Aspekte des anderen zurückhaben, die ihnen durch die Fiktion genommen wurden. Sie wollen wieder eins werden. Indessen hat Sarah ihren Ehemann satt, sie will ihre Bettgeschichten weiterführen. „Was hast du gesagt?“, ist oftmals ihre Antwort auf die verhaltene Art ihres Mannes seine Unzufriedenheit auszudrücken. Statt auf seine Gefühle einzugehen, fragt die gekränkte Frau ihren Mann, ob er sie auch zu knochig findet. Beide sind verletzt und mit sich selbst beschäftigt.
Ende der Zweisamkeit mit fiktiven Liebhabern
Das Publikum wird in die Rolle eines Voyeurs gezwungen, was einigen unangenehm zu sein scheint. Beim Hinausgehen wird von Teilen des Publikums behauptet, man hätte mit der Thematik nicht so viel anfangen können – ziert man sich hier? Ist es nicht unausweichlich, dass ein Paar über das Aufpeppen des Sexlebens redet? Es scheint, als würde die Thematik alle angehen müssen. Fetisch und langjähriges Sexleben auf die Bühne zu bringen, erfordert Mut, aber offen über reale Wünsche und Unzufriedenheiten des eigenen Paarlebens zu reflektieren, ist einem manchmal nicht möglich. Das Stück erquickt, indem es dazu anregt, es wenigstens zu versuchen. Richard und Sarah haben eine kreative Lösung gefunden, die einige Jahre genutzt wird, bis eine Neukalibrierung von Nöten ist.
Ina Müller besang schon die Langeweile der banale Alltagsschmatzer und die Lust zum gemeinsamen miteinander Fremdgehen. Kein neuer Stoff also. Fiktionaler Alltag funktioniert hier jedoch nicht mehr, erotische Spielereien enden in ernsten Dialogen. Die dem Publikum gegebene Außensicht auf misslingende Kommunikation ist lehrreich: Zwei Seiten derselben Medaille werden präsentiert. Einem ist meist nur die eigene Seite bekannt. Hier wird bewusst gemacht, wie sich das Gegenüber fühlen kann, wie Missverständnisse entstehen. Das spornt dazu an, die eigene Kapazität, sich mit den Gefühlen des Gegenübers zu beschäftigen, zu hinterfragen. Wer Lust hat, sich von den auf die Bühne gebrachten Denkanstößen inspirieren zu lassen, dem wird das Stück gefallen.
Waggonhalle Produktion Nr. 38
Sarah: Magdalena Kaim
Richard: Dietrich Faber
Regie: Matze Schmidt
Regieassistentin: Helga Niehaus
Ausstattung: Daniela Vogt
Foto: Gerd Sycha
Aufführungsdauer: ca 70 Minuten
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studiert im Master 'Soziologie' und 'Literaturvermittlung in den Medien'. Seit 2022 in der Redaktion sowie im Lektorat aktiv und seit Januar 2023 Chefredaktion von PHILIPP.
Stolze Stuttgarterin, 23 Jahre jung, studiert Nah- und Mitteloststudien. Seit März 2022 dabei und bildet seit Januar 2023 mit Leo die Chefredaktion. Mit dem Körper in Marburg, dem Geist in Palästina und dem Herzen in den Alpen.