Sneak Review #202: Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Sneak Review #202: Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Er war einer der ersten Gefangenen in Guantanamo nach dem Anschlag am 11. September 2001: Murat Kurnaz (Abdullah Emre Oztürk).Unter der Regie von Andreas Dresen (u.a. Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, Gundermann) wird in Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush, unter anderem mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch auf der diesjährigen Berlinale ausgezeichnet wurde, die wahre Geschichte um den Bremer Jungen erzählt. An der Seite von Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan), Murats Mutter, werden die Zuschauer*innen der Sneak Preview am 29. März 2022 Zeugen des scheinbar unmöglichen Kampfes zur Befreiung ihres Sohnes, der nicht nur das Herz, sondern gleichsam die Lachmuskulatur berührt.

Rabiye gegen den Rest der Welt

Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte beginnt in einem Reihenhaus in Bremen. Es ist das Jahr 2001, ca. 3 Wochen nach den Anschlägen auf die Twin Tower am 11. September. Eine Hausfrau und Mutter dreier Söhne türkischer Abstammung ruft ihren Sohn Murat, den Ältesten von Dreien. Er ist 19. Er ist nicht aufzufinden; sein Zimmer ist leer und die beiden kleineren Jungs wissen auch nicht, wo ihr Bruder ist. Die Mutter, namentlich Rabiye Kurnaz findet bei der Polizei heraus, dass sich ihr Sohn mit einem Kumpel auf dem Weg nach Pakistan befindet, das belegt die Aufnahme einer Überwachungskamera am Check-In des Frankfurter Flughafens. Murat hat sich die Wochen immer mehr mit dem Koran beschäftigt, er besuchte eine Koranschule und wurde immer gläubiger. In seiner Familie glaubt man zwar an Allah, aber „das ist super mit Allah, wenn man 300 Euro spendet an Menschen, denen es schlechter geht, kann man auch mal Fasten brechen“, erzählt Rabiye später, einen Whiskey-Cola schwenkend. 

Ihr Sohn habe wohl vor in Pakistan gegen die Amerikaner, gegen George W. Bush zu kämpfen, für Al-Quaida. Rabiye kann das alles nicht glauben, sträubt sich gegen die Anschuldigungen. Als sie herausfindet, dass er wegen Terrorverdachts festgenommen wurde und sich in einem Gefängnis in Guantanamo Bay befindet – sie kann mit dem Begriff zu dem Zeitpunkt noch nichts anfangen – begibt sie sich wie selbstverständlich in das Büro eines Bremer Rechtsanwalts, Bernhard Docke (Alexander Scheer). Als dieser die Tragweite von Murats Fall begreift, bzw. als Rabiye „Guantanamo“ erwähnt, beginnt eine langwierige Reise, ein Kampf für die Gerechtigkeit, der die beiden bis zum Supreme Court in Washington DC führt.

Die Mama: Eine unerwartete Heldinnenreise 

Die Aussichten für Rabiye sind alles andere als gut. Ihr Sohn ist einer der ersten Gefangenen des Gefangenenlagers Guantanamo, ohne Prozess, ohne Pflichtverteidiger, ohne Rechte, ohne Beweise. Weder die deutsche Justiz scheint ihr helfen zu wollen, ihr Sohn ist schließlich Türke ohne deutsche Staatsbürgerschaft, noch sieht sich die türkische Regierung in der Verantwortung ihr zu helfen. Auch Guantanamo ist eine einzige menschenrechtliche Grauzone, besser gesagt ein menschenunwürdiges Niemandsland. Die Amerikaner berufen sich darauf, dass sich das Gefangenenlager auf kubanischem Boden befindet und die kubanische Regierung will sich nicht in amerikanische Angelegenheiten einmischen. 

Rabiye befindet sich juristisch und perspektivisch in einem tiefen Loch. Die Mauern scheinen nicht erklimmbar. Die perfekte Ausgangslage für eine Heldinnenreise. Nur ist Rabiye nicht der klassische Held, der die gewohnte Welt verlässt, die Herausforderungen auf seinem Weg durch die Unterwelt alleine bestreitet und sich von einem Mentor belehren lässt, um schließlich den Endgegner zu besiegen und als Herrscher beider Welten in die gewohnte Welt zurückzukehren. Ich habe bewusst das Femininum der klassischen Heldenreise verwendet. Denn Rabiye, die besorgte Mutter, die in ihrem Optimismus so unbremsbar ist, wie ihr Mercedes, den sie voller Freude über die roten Ampeln des Bremer Umlandes Jagd, kämpft sich nicht alleine von einer Herausforderung zur nächsten. Ihre Waffe ist kein Schwert, kein magisches Elixier. Es ist ihre Kommunikation, ihre Liebe zu ihrem Sohn, ihre unbändige Hingabe, der Wille Murat zu befreien. Ihr Rechtsanwalt, Bernhard Docke ist auch weitaus mehr als ein Mentor. Zusammen sind die zwei ein Team, werden zu Freunden, Familie. Der Antagonist in dieser Heldinnenreise ist, wie der Titel schon verraten mag, der derzeitige US. Präsident George W. Bush, aber auch die deutsche Rot-Grüne Regierung, die langsamen bürokratischen Abläufe und die türkische Regierung. Die Liste ist lang. Rabiye und Bernhard Docke schaffen zusammen ein Netz aus Mitstreitern in Form von Menschenrechtsorganisationen und Prominenten. Ihr Ziel ist nicht nur die Freilassung Murats, sondern ein fairer Prozess und der menschenwürdige Umgang für alle Guantanamo-Insassen. Kurzum: Sie Kämpfen für die Rechtsstaatlichkeit.

The Power of the Docke

9/11, Terrorismus, Guantanamo Bay, Afghanistan-Krieg und Folter. Ausweglosigkeit, juristische schwarze Löcher, politische Sackgassen und menschliche Miseren. Diese Superlative an Negativität und dunklen Assoziationen scheinen ein erdrückender Nährboden für eine schwere, von Trauer und Tränen geprägte Ballade zu sein. Auch wenn diese Themen natürlich handlungs-und stimmungsbestimmend sind und wie eine dunkle Wolke über dem Geschehen schwebt, schaffen es doch die beiden Protagonisten durch ihre herausragende schauspielerische Leistung, das Publikum nicht nur zur Empathie, sondern auch überraschenderweise zum Schmunzeln und gar zum Lachen zu bringen. 


Da ist zum einen Bernhard Docke, der Bremer Menschenrechtsanwalt, dem man auch anhört, dass er „vom Norden wech“ ist. Mit seinem sympathischen „Moin“ beim Betreten eines jeden Raumes, egal wie hoch die jeweilige Instanz auch sein mag, scheint seine norddeutsche Lockerheit durch und zaubert dem Marburger Sneak-Publikum jedes mal ein Lächeln ins Gesicht. Hier ist man ja eher mit „Gude“ als Begrüßung – oder einfach einem „Hallo“ – als Begrüßungsform vertraut. 

Nicht weniger liebevoll wirkt Rabiye auf das Publikum. Mit ihrem fröhlichen und liebevollen, teils naiven Gemüt schließt man sie automatisch ins Herz. Sie trotzt den Umständen mit Witzeleien und coolen Sprüchen. Auch wenn ihr stets die innere Zerrissenheit beim Gedanken an ihren gefolterten Sohn in Gefangenschaft anzumerken ist, verbreitet ihr Optimismus und ihre Menschlichkeit eine gewisse Glückseligkeit. In den richtigen Momenten schafft sie auch für die Zuschauer*innen einen Moment der Entspannung, eine Pause, um kurz den Kopf aus dem verbitterten Sumpf der Unmenschlichkeit und des Unrechts zu stecken und Luft zu holen, in Form eines Lachers. Im Flugzeug, in der Business-Class auf dem nach Washington DC um eine Petition zu überreichen, greift sie erst zögerlich – „Ist gratis?“ – dann genüsslich zum Champagner und stößt mit den Worten „Allah schaut grad weg“ mit Bernhard Docke an. Das ist nur eines der vielen Beispiele, der erhellenden Momente, die Rabiye zugleich nahbar und so liebevoll wirken lässt und damit auch als schützende Hand vor der erdrückenden Erzählung funktioniert. 

Once Upon a Time in Guantanamo

So, wie jede Heldenreise ein siegreiches Ende hat, so findet auch die Heldinnenreise von Rabiye in Teilen ein versöhnliches Ende. In dem Fall lässt sich das durchaus vorwegnehmen, da die Geschichte von Murat Kurnaz von 2001 bis 2006 mediale Beachtung fand und durchaus bekannt sein sollte. Zumindest erreicht sie, zusammen mit ihren Mitstreitern auf ihrer Reise, dass ihr Sohn nach 5 Jahren Gefangenschaft freigelassen wurde. Ein kleiner Sieg. Neben den offensichtlichen, physischen Schäden wie der breite, aber eingeschränkte und den Fußfesseln geschuldete Gang Murats, der an die ersten Schritte eines Babys erinnert, trägt Murat tiefsitzende psychische Narben in Sich. 5 Jahre. Über 1500 Tage Gefangenschaft unter täglicher, systematischer Folter, den menschenunwürdigsten Verhältnissen. Ohne Prozess. Ohne Beweise. Keine Entschädigung seitens der deutschen Regierung. Keine Entschuldigung. Keine Verantwortung. Und Guantanamo: Es ist immer noch da. Nach 20 Jahren. Dieser Kampf wird und muss weitergehen.

Wie erdrückend die Geschichte auch sein mag, sie wird durch die liebevolle Rabiye und den norddeutsch-sympathischen Bernhard Docke auf eine Art transportiert, dass auch bei vollem Bewusstsein über die Unwürdigkeit der unrechtmäßigen Gefangenschaft und die dramatische Menschenrechtslage rund um das Gefangenenlager Guantanamo, eine Ebene der Unterhaltung geschaffen wird, die auch im Kontext der Erzählung als angenehm wahrzunehmen ist. Gleichzeitig wird uns gezeigt, dass die unerschütterliche Liebe als Funke der Hoffnung und als Antrieb ausreicht, um es mit scheinbar übermächtigen, undurchsichtigen und ungerechten Systemen aufnehmen zu können – und dabei sein Lachen nicht zu verlieren. Das Wichtigste ist aber, Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush bringt Guantanamo, bringt Afghanistan in unsere Gegenwart, von der Kinoleinwand in unsere Köpfe, in unser Gewissen. Und von da aus vielleicht wieder auf die politische Agenda. 

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush erscheint voraussichtlich am 28. April 2022 in den deutschen Kinos.

Foto: Andreas Dresen/ Pandora Filmproduktion GmbH

Macht irgendwas mit Medien (privat, freiberuflich & im Studium) und schnackt euch jetzt nicht mehr nur noch über die Radiofrequenz das Ohr über Themen ab, denen er wenig Wissen, aber viel Spaß beisteuern kann.

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