Was bedeutet der Literatur-Nobelpreis 2017 für die Wissenschaft, Prof. Kuester?

Was bedeutet der Literatur-Nobelpreis 2017 für die Wissenschaft, Prof. Kuester?

Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkentnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oftmals schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger:innen eigentlich ausgezeichnet werden. Der diesjährige Literaturnobelpreisträger ist in Deutschland kaum bekannt. PHILIPP hat Prof. Dr. Martin Kuester gefragt, warum das so ist und warum Kazuo Ishiguro den Preis trotzdem verdient hat.

PHILIPP: Was macht Kazuo Ishiguros Literatur nobelpreiswürdig?
Prof. Dr. Martin Kuester: Die thematische Vielfalt seines Werkes ist besonders beeindruckend. Er spricht viele unterschiedliche Themen an, spielt mit verschiedenen Genres und tritt auf immer neue Arten an diese heran. In „Never let me go“ (dt. „Alles was wir geben mussten“) geht es um eine dystopische Welt in der Menschen als Organ-Ersatzteillager herangezüchtet werden. „The Remains of the Day“ (dt. „Was vom Tage übrigblieb“) ist dagegen ein Geschichtsroman, in dem das britisch-deutsche Verhältnis im Rahmen des dritten Reichs und die generelle Ver- und Bearbeitung der Vergangenheit und der Weltkriege behandelt wird. Er beweist große Vielseitigkeit und ein enormes Spektrum an literarischen Kategorien, denen er auch sprachlich und stilistisch immer gerecht werden kann.

Wie würden Sie seinen Schreibstil charakterisieren?
In den Romanen, zum Beispiel auch im neuesten Werk, „The Buried Giant“ (dt. „Der begrabene Riese“), entsteht durch den Stil eine zeitliche und damit oft auch kulturelle Distanz zu den Charakteren. Diese Distanz müssen die Leser zunächst einmal überwinden , um Zugang zu den Werken und ihren Figuren zu finden. Man könnte das auch einen Verfremdungseffekt nennen.

Wie passt sein Werk in die aktuelle Zeit?
Er deckt beispielsweise Probleme der Naturwissenschaften, im Bereich der Genetik und Genmanipulation auf und befasst sich in diesem Zusammenhang mit ethischen und philosophischen Fragen. Dabei zeigt er, dass er die Welt nicht in einem positiv-utopischen Licht sieht, sondern eher aus einer etwas dystopischeren Perspektive. In dieser Hinsicht spiegelt er die heutige Welt, in der nicht alle Entwicklungen als positiv verbucht werden können, sei es im Bereich der Ökologie oder der aktuell angespannten weltpolitischen Situation. Die Fortschritte auf die wir gehofft hatten, beispielsweise durch das Klimaabkommen, sind nun, vor allem durch den Austritt der USA, doch ein wenig weiter in die Ferne gerückt. Solche Beobachtungen und Ambivalenzen zeigt Ishiguro auf.

Viele Menschen, gerade in Deutschland, konnten nur wenig mit Ishiguro anfangen. Im englischsprachigen Raum aber ist er ein Star. Woran liegt das?
Ich kann mir das auch nicht erklären. In den Reaktionen der Presse rund um die Verkündung des Literaturnobelpreisträgers wurde diese Beobachtung auch immer wieder gemacht. Ishiguro wurde in diesem Zusammenhang nicht zu den erstrangigen britischen Autoren gezählt. Das sehe ich aber anders. Bisher habe ich sein Werk selten unterrichtet, aber immer wieder kamen Studierende auf mich zu, die sich gerne im Zuge ihrer Bachelor- oder Staatsexamensarbeiten mit seinen Romanen beschäftigen wollten. Häufig ging es dabei auch um den Vergleich mit anderen Autoren, die auf ähnliche Weise Kritik an naturwissenschaftlichen und politischen Entwicklungen üben. In eine ähnliche Richtung wie Ishiguro geht zum Beispiel auch die Kanadierin Margaret Atwood, etwa mit ihren Bestsellern „The Handmaid’s Tale“ (dt. „Der Report der Magd“) oder „Oryx and Crake“ (dt. „Oryx und Crake“), die auch heiße Anwärterin auf den diesjährigen Literaturnobelpreis war.

Die „Zeit“ bezeichnete Ishiguro als „perfekten Kompromiss-Kandidaten, der niemanden richtig enttäuschen, aber auch niemanden richtig glücklich machen dürfte“. Was sagen Sie dazu?
Diesen Artikel habe ich auch gelesen und kann die These aus wissenschaftlicher Sicht nicht so recht nachvollziehen. Die Literaturwissenschaftler und Anglisten mit denen ich gesprochen habe, waren nicht so skeptisch. Die meisten waren sehr glücklich mit der Auswahl, weil sie wie ich der Meinung sind, dass Ishiguro es auch wirklich verdient hat. Man hätte auf Bob Dylan natürlich auch einen anderen Sänger-Poeten wie Leonard Cohen folgen lassen können. Der diesjährige Preisträger verkörpert stattdessen die sichere Schiene. Daran werden sich, anders als bei Dylan, keine Kontroversen und keine großen Debatten anschließen. Trotzdem ist Ishiguro ganz klar einer der wichtigsten Autoren der Gegenwart, dessen Werk so vielseitig und so stimulierend ist, dass es die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis verdient. Wobei das natürlich auch von meiner Warte als Anglist aus eine eurozentrische Sichtweise ist. Ich ziehe Autoren aus anderen Erdeilen und anderen Kulturen zwangsläufig seltener heran und konzentriere mich eher auf Literatur in englischer, deutscher und französischer Sprache.

Ishiguro ist gebürtiger Japaner, stammt also eigentlich aus einem anderen Kulturkreis. Er lebt aber seit seinem sechsten Lebensjahr in Großbritannien. Merkt man das seinem Werk an?
Meist weniger, da Ishiguro doch in England zur Schule und Universität gegangen ist. Trotzdem zeigt er teilweise eine überraschende Distanzierung gewisser Charaktere gegenüber der „normalen“ Gesellschaft, zum Beispiel die des Butlers in „The Remains of the Day“. Das lässt sich möglicherweise auch mit der im Vergleich zu Deutschland strikteren Klassenstruktur der englischen Gesellschaft erklären. Aber das Gespür und das Verständnis Ishiguros für nationale und klassenspezifische Eigentümlichkeiten ist sicherlich auch durch seine Biographie beeinflusst.

FOTO: CC FrankieF, unverändert.

Zur Person:
Prof. Dr. Martin Kuester lehrt seit 1999 an der Uni Marburg Anglistik und Literaturwissenschaft. Seine besonderen Forschungsschwerpunkte sind neben historischen Romanen auch Kanadische Studien und Kanadische Literatur.

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