Benjamin von Stuckrad-Barres Noch wach?: Ein weiterer Laberbeitrag
Grafik Buchcover: Kiepenheuer & Witsch
Ich überspringe in einer Kurzdokumentation über ‚Streetphilosophy‘ die Interview-Abschnitte mit einem Angler und einer Philosophin, um direkt zu von Stuckrad-Barre zu gelangen. Es geht um seinen Kleidungsstil. Ich habe mich auf die Suche nach Inhalten über Benjamin von Stuckrad-Barres Kleidung gemacht, schließlich trug er auf der exklusiven, im Berliner-Ensemble veranstalteten Lesung und Buchpremiere (!) seines neuen Romans Noch wach? ein gestreiftes Matrosenshirt. Ich sah ihn überall in diesem Shirt, nachdenklich, meist vor einem dunklen Hintergrund eine Zigarette rauchend oder sich triumphierend einem unbekannten Publikum präsentierend. So weit ist es gekommen. Die Diskussionen um den Roman und sein Verhältnis zu einem bestimmten Teil der Medienbranche wurden so schnell erschöpft, dass ich jetzt über die Kleidung dieses Mannes nachdenke. Ja, Selbstinszenierung ist ein legitimer analytischer Bereich, der bei von Stuckrad-Barre große Relevanz besitzt. Aber wo bleibt da der Text?
Vielleicht hier: Es gibt wenige neuzeitliche Erscheinungen, die so schnell und gleichzeitig so flächendeckend oberflächlich rezipiert wurden wie Noch wach?. Sieben Jahre nach seinem letzten Roman Panikherz meldet sich von Stuckrad-Barre, der selbststilisierte Pop-Chronist der Moderne, mit einem Text über Machtmissbrauchsstrukturen in der Medienbranche. Die auf die Erscheinung des Romans hinarbeitende Marketingkampagne könnte als Ereignis selbst Gegenstand einer nähergehenden Betrachtung werden. Den Roman zunächst geheimnisvoll unter Verschluss des Titels und genauen Inhalts ankündigen, hier und da einige Andeutungen auf unterschiedlichen Plattformen machen, den Rest dem sich selbst perpetuierenden Diskurs überlassen. So wurde und wird der Roman häufig auf sein Verhältnis zur Realität reduziert oder ausgeweitet: „DER SCHLÜSSELROMAN ÜBER DEN SPRINGER-VERLAG“, tönte es in ausschweifenden Ausrufen, die jedoch auch vom Roman selbst subtil aufgerufen und parodiert werden. Welche reale Person steckt hinter welcher Figur, wie bildet der Text die Realität ab? Der Roman verweist denn auch in einem vor dem Haupttextbeginn gesetzten Kommentar auf seine zwar von der Realität inspirierte, aber letztendlich von ihr losgelöste Fiktionalität. Ist das noch eine Aussage über Ästhetik oder eine rechtliche Taktik, um etwaigen Anklagen vorzubeugen? Oder sogar beides? Wenn dem so wäre, stellt sich die Frage, ob der Text die dadurch kreierte Spannung – dieses dem Schlüsselroman typische Vexierspiel von fiktionalisierter Realität und allgemeingültigen, übergeordneten Strukturen enthüllender Fiktion – überhaupt aushält.
Ein Spiel mit offenen Karten
Es ist ein schwankendes, schwer zu greifendes Verhältnis, gerade weil es so offensichtlich scheint. Noch wach? ist zum Teil Dokument der Überforderung des, wie auch in seinen vorherigen Texten, von Stuckrad-Barre stark ähnelnden Erzählers angesichts der zunehmenden Komplexität des Versuchs, den im Mittelpunkt der Anschuldigungen stehenden Chefredakteur eines großen TV-Senders zu überführen. Im Roman selbst wird dabei, wenn auch in einem leicht anderen Kontext, explizit von der BILD gesprochen, jene Ansammlung an Großbuchstaben, die sich als scheinbar kohärenter Journalismus verstehen möchte und große Ähnlichkeiten zum namenlos bleibenden Sender des Romans besitzt. Ob es sich dabei um eine nur leicht verschlüsselte Form der BILD handelt oder nicht ist unerheblich. Interessant ist eher, dass der Roman in der Gesamtheit seiner literarischen Verfahren seinen Realitätsbezug durch Äquivalenzbeziehungen bejaht. Dass die BILD in der Textwelt existiert, könnte die Symbolfunktion des Hauptsenders redundant machen – warum etwas repräsentieren, das schon da ist? –, aber die Verbindung, die durch das Nebeneinander beider Sender entsteht, wird durch die explizite Benennung eigentlich nur verstärkt. Der Wald kann erst dann vor lauter Bäumen nicht gesehen werden, wenn jeder Baum dem anderen irgendwie gleicht und so überhaupt erst ein Wald entsteht.
Der namenlos bleibende und damit nur in seiner Machtposition greifbare Chefredakteur nutzt seine Macht aus, um Praktikantinnen zu verführen und nach einer gewissen Zeit durch neue auszuwechseln. Die enge Verzahnung von Privatem und Beruflichem, die zusätzlich durch das Machtgefälle zwischen dem Chefredakteur und der jeweiligen Frau verkompliziert wird, macht es den Frauen unmöglich, nach ihrem Verhältnis offen darüber zu sprechen, da sie stets um ihren Beruf und ihren Ruf – extern sowie senderintern – fürchten müssen. Auch wenn sich der Erzähler so weit wie möglich von diesem sich tatsächlich als Form von Journalismus verstehenden Sender distanziert, ist er doch darin verstrickt, da er eine enge Freundschaft, sogar platonische Liebesbeziehung zum Oberhaupt dieser Institution pflegt. Der ebenfalls namenlos bleibende Erzähler wird für die betroffenen Frauen zur Bezugsperson und die rechtlichen Prozesse, die die Missbrauchsstrukturen einer größeren Öffentlichkeit enthüllen sollen, nehmen einen Großteil des Romanraums ein.
Wer hat Angst vor von Stuckrad-Barre?
Hiermit befinden wir uns schon mitten in den Paradoxien, die dieser Roman vielleicht produziert, vielleicht auch nur andeutet, allenfalls aber provoziert. Wie von Stuckrad-Barre selbst in zahlreichen Interviews zu diesem Text lamentierte, konzentrieren sich alle anscheinend nur auf die Männerfiguren. Die weiblichen Figuren, die eigentlich doch den Mittelpunkt des Romans einnehmen sollten, werden hingegen vernachlässigt. Woraus ergibt sich diese diskursive Schieflage? Der Roman befasst sich zwar mit der Perspektive der – und die mit dem folgenden Begriff eingeführte Ungenauigkeit ist durchaus Intention des Rezensenten – Frauen, aber nur durch den moralisch-vereinfachten Filter des männlichen Erzählers. Zugegeben, dieser Filter ist notwendig, um die privilegierte Distanz des Erzählers stets hervorzuheben, äußert sich in letzter Konsequenz aber nur in zielloser Überforderung, die wiederum dazu führt, dass sich der Erzähler wieder an seinen mächtigen CEO-Freund wendet. Kann es also aufgrund der Perspektivierung überhaupt um die, mit der Terminologie des Romans gesprochen, ‚Belastungszeuginnen‘ gehen, wenn an letzter Stelle immer der Erzähler als Filter steht? Kann Noch wach? dahingehend mehr sein als die Beschreibung männlicher Nutzlosigkeit?
In seinem Bestreben, die Machtausnutzungsmechanismen der Gesellschaft zu analysieren, geht der Roman jedoch nicht weit genug und reproduziert sie letztendlich nur. Soll er also die Realität fiktionalisiert so bündeln, dass anhand seiner Ergebnisse Veränderungen vorgenommen werden können? Die Tiefe der Analyse ist dafür überraschend oberflächlich. Ja, von Stuckrad-Barre schafft es, diese Muster in dem ihm eigenen Sprachduktus zu formulieren, sie gehen jedoch nie über bereits bekannte Erkenntnisse hinaus, gerade weil sie sich an den von-Stuckrad-Barre-Ton halten. Diese Kombination aus kulturpessimistischen Beobachtungen und pointierten Wortspielen, die in erratisch-ornamentierten Stakkato-Sätzen verfasst sind, kreieren zwar einen unterhaltsamen Lesefluss, weisen aber in eine völlig andere Richtung als der moralisch vorgefärbte Inhalt. Die stilistische Hervorhebung verbaler Wegwerfhülsen durch deren Großschreibung – eine Taktik, die den Roman durchzieht – reicht als Erweiterung des von-Stuckrad-Barre’schen Stils nicht. Die klare Positionierung, die der Stoff erfordert, wird von der das Menschenleben als große Komödie ansehenden Perspektive des Erzählers ausgehöhlt.
Aber es gibt sie ja doch, jedenfalls eine: Sophia, eine Moderatorin aus dem Sender und die präsenteste weibliche Figur, die von dem echt performenden Autor in Interviews auch mehrmals als eigentliche Heldin des Romans betitelt wurde, erhält viel Raum, um sowohl ihre Erfahrungen mit dem Chefredakteur als auch das generelle Leben als weiblich gelesene Person im Patriarchat zu erklären. Jedoch passiert das in genau diesem Modus: längere Erklärmonologe, für die alles andere temporär pausiert wird. Der Inhalt dieser Monologe sowie die Position des unerfahrenen, männlichen Erzählers, der von Sophia zurechtgewiesen wird, mag in sich noch so authentisch, präzise und zutreffend sein, doch ihre Platzierung innerhalb des Gesamtkonstrukts macht aus ihnen nichts mehr als flache Belehrungen. Die im Laufe der Romanhandlung aufkommende Menge an Frauen, die von dem Chefredeakteur ausgenutzt wurden, verkommen zu einer identitätslosen, abermals überfordernden Menge an totbleibendem Buchstabenmaterial. Dagegen existieren jedoch listenartige Abschnitte, die – wenn auch im Kontext einer Überlegung des Erzählers – nochmal die Namen aller, diesmal unverschlüsselt real existierender, mächtiger Männer durchgehen, die in den letzten Jahren sexuell übergriffig wurden. Ist diese bloße Reproduktion der Verhältnisse als ästhetische Errungenschaft anzusehen oder als Beweis der Unzulänglichkeiten, ja Grenzen der Romanform?
Gegenwartsschleifen
Noch wach? möchte in seiner chaotischen Gegenwartsfiktionalisierung oder Fiktionsrealisierung jedoch auch ein über Deutschland hinausgehendes Portrait liefern. Neben dem deutschen Sender existiert noch das vorläufige Paradies. In dieser Welt: das ‚Chateau Marmont‘-Hotel in Los Angeles. Sehnsuchtsvolle Poolpartys mit Hollywood-Star-Personal bei Mondnacht als Gegenentwurf zu der ungeordneten Prozessballung Deutschlands. Dass die Oberfläche einer solch romantisch verklärten Existenz sehr leicht einbrechen kann, wird zu Beginn des Romans bereits skizziert, bei zunehmender Seitenzahl durch die im Roman selten erscheinende und ebenfalls real existierende Schauspielerin Rose McGowan und ihrer Verbindung zu Harvey Weinstein aber immer konkreter. Auch hier entwickeln die Teile keine Verbindung zueinander. Warum eine solch subtile Parallelisierung der schlimmer werdenden Situation in Deutschland mit den Ereignissen in Los Angeles? Der Zusammenbruch einer elitären Idylle ist als Kontrast zu einfach konstruiert, in ihrem Platz innerhalb der Romanstruktur nur naiv.
Ein im Literaturbetrieb mächtiger Mann nutzt also seine Reichweite, um ein Buch über noch mächtigere Männer zu schreiben, die wiederum ihre Privilegien verwenden, um Frauen zu manipulieren und auszunutzen. Aus dem Bauch des Biests, aus dem Inneren des Feindes heraus möchte von Stuckrad-Barre die unterliegenden Probleme enthüllen. Doch was wird dabei zutage gefördert, was die meisten, die sich demgegenüber nicht völlig blind verhalten, nicht bereits wissen? Mächtige Männer kommen immer davon, werden sogar noch reintegriert, während die betroffenen Frauen nach der alles riskierenden Überwindung, an die Öffentlichkeit zu treten, untertauchen müssen und wahrscheinlich nie wieder gesehen werden? Es ist zwar wichtig, dass auch privilegierte Männer an diesem Diskurs teilnehmen und auf die Probleme, die mit ihrer Position verbunden sind, hinweisen, dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass von Stuckrad-Barre, aufgrund der auf ihn zugeschnittenen Vorteile des Systems, das er kritisiert, profitiert. Dieser Widerspruch kann nicht so leicht aufgelöst werden. Für eine Systemumwälzung ist der Text, ob nun autonomes, ästhetisches Wunderwerk oder bloßes Sprungbrett für eine von-Stuckrad-Barre-Performance, nicht radikal genug. Die plumpe, aber dennoch überraschend nützliche Einsicht, dass es darum gehe, kein Arschloch zu sein wird in Noch wach? mehrmals betont, sollte aber keine Tugend, sondern das absolute Minimum sein. Vielleicht kann der Fortschritt unserer Gesellschaft daran gemessen werden, wie irrelevant der Roman in den kommenden Jahren werden wird.
Ein Rezensionsexemplar wurde der Redaktion kostenlos vom Verlag bereitgestellt. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text wurde dadurch nicht beeinflusst.
ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 25 Jahre alt. Liebt schiefe Vergleiche.