Bundestagswahl-Interview: Philipp Henning (Die Linke)

Foto: Adrian Pourviseh, Collage: L. Barth, L. Selbach & A. Sent
Nach der Gründung des BSW wurde Die Linke schon totgesagt, nun bekommt die Partei viel mediale Aufmerksamkeit. Die Fünf-Prozent-Hürde scheint auf einmal machbar und sogar mehrere Direktmandate sind möglich. Wir haben mit Philipp Henning, dem Direktkandidaten für den Kreis Marburg-Biedenkopf, gesprochen und ihn von Ukraine-Krieg bis Mietendeckel zum Wahlprogramm ausgefragt.
Hallo Philipp, schön, dass du Zeit gefunden hast. Kannst du dich vielleicht einmal für uns vorstellen?
Ja, gerne. Ich heiße Philipp Henning, bin 32 Jahre alt und geboren in Berlin. Ich habe in Dresden und Marburg Politikwissenschaften studiert. Aktuell arbeite ich als Referent für Die Linke in Berlin im Bundestag.
Du bist für die Bundestagswahl 2025 als Direktkandidat für den Kreis Marburg-Biedenkopf aufgestellt. Wie bist du überhaupt zur Partei gekommen und wie zum Direktmandat?
Ich denke, ich habe schon immer mit der Linken sympathisiert, mein Umfeld in Berlin-Kreuzberg ebenfalls, ich war immer auf Demos. Den Eintritt in die Partei habe ich ein wenig vor mich hergeschoben. Vor acht Jahren bin ich dann eingetreten, aktiv geworden bin ich aber erst, als ich für meinen Master nach Marburg gezogen bin. In der Hochschulpolitik habe ich mich dann zuerst für den SDS engagiert und bin dann immer mehr in Richtung Partei gerutscht. Kandidat bin ich geworden, da ich es dem Vorstand vorgeschlagen habe und dann bei der Mitgliederversammlung gewählt wurde. Fairerweise muss man sagen, dass es auch keine Konkurrenz gab.
Ich würde dir gerne ein paar Fragen bezüglich des Wahlprogramms der Linken stellen. Was ist für dich persönlich der wichtigste Punkt?
Ein für mich sehr wichtiger Punkt ist, dass das Leben wieder bezahlbar wird. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass durch die Inflation und Preissteigerungen, der Einkauf im Supermarkt oder die Mieten gestiegen sind, gleichzeitig aber der Lohn oder die Rente nicht in dem Rahmen gestiegen sind. Wir setzen uns für einen Mietendeckel ein, die Abschaffung der Mehrwertsteuer bei Grundnahrungsmitteln, Hygieneprodukten oder den Ticketpreisen für den ÖPNV.
Dieses Geld würde dem Staat als Steuereinnahme fehlen. Wie stellt sich Die Linke vor, dies zu kompensieren?
Ich glaube, in den letzten Wochen wurde häufig über die Finanzierung verschiedener Forderungen von Parteien geredet, es gab Hochrechnungen von Wirtschaftsinstituten, bei denen herausgekommen ist, dass Forderungen von der Linken mit am besten finanziert sind. Zum Beispiel durch Klassiker wie die Vermögenssteuer, eine Erbschaftssteuer oder eine Kapitalertragssteuer. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Steuerhinterziehung begrenzt wird. Diese begehen vor allem reiche Leute. Ich möchte an die Panama Papers erinnern, wo gezeigt wurde, wie vermögende Personen ihr Geld in Steueroasen verstecken. Das passiert immer noch. Wir möchten dies stärker kontrollieren, wodurch Milliarden für den Haushalt zur Verfügung stehen würden.
Ich höre jetzt schon ein wenig heraus, für wen du Politik machen möchtest. Das wäre dann vor allem die arbeitende Bevölkerung, die mehr Geld in der Tasche haben soll?
Ich würde sagen für die breite Bevölkerung. Dazu zählen natürlich Millionen von Beschäftigten, aber auch die junge Generation, die noch in der Schule ist, Studis, aber auch Rentner*innen, Alleinerziehende, die nicht arbeiten können, aber auch Arbeitslose. Also für alle, die nicht Milliarden geerbt haben, sondern von dem täglichen Brot leben müssen.
Falls du in den Bundestag gewählt werden würdest, wäre dein Kernanliegen ein bezahlbares Leben?
Ja, genau. Wenn man das noch unter einen Oberbegriff packen möchte, wäre das soziale Gerechtigkeit. Dazu zählt natürlich ein bezahlbares Leben, aber auch andere Aspekte sozialer Gerechtigkeit wie zum Beispiel Minderheitenrechte. Für mich ist die Klimakrise auch Teil sozialer Gerechtigkeit. Diese betrifft vor allem wieder die breite Masse, denn die Reichen kaufen sich woanders ein Haus, schaffen es, sich irgendwie abzusichern. In diesem Rahmen fällt natürlich auch das Stichwort Umverteilung.
Verfolgst du spezifische Ziele, die du für deinen Wahlkreis Marburg-Biedenkopf umsetzen möchtest?
Die Aspekte, die ich soeben genannt habe. Dass Marburg-Biedenkopf ein attraktiver Ort bleibt – in Deutschland oder in der Welt. Zum Beispiel für internationale Studis. Der Mietendeckel ist besonders für Marburg ein Thema, der Wohnungsmangel am Anfang des Semesters betrifft viele. Aber auch ein guter Nahverkehr und eine gute Universität finde ich wichtig. Das ist eigentlich Ländersache, aber man kann als Bund immer unterstützen, wie zum Beispiel bei dem Thema BAföG.
Welche Rolle nehmen Studierende im Wahlprogramm der Linken ein?
Zum Beispiel fordert Die Linke ein BAföG für alle, welches elternunabhängig ist. Wir sind für Mensen, die günstig sind, aber auch gutes Essen anbieten können. Eine Herzensangelegenheit für mich ist auch immer die Mitbestimmung.
Die Linke fordert weiterhin einen NATO-Austritt. Ist in einer Zeit, in der militärische Stärke wieder an Wichtigkeit gewinnt und alle Großmächte aufrüsten – während wir als Deutschland oder Europa immer mehr auf uns alleine gestellt sind – diese Position noch zeitgemäß?
Ich glaube schon. Es wird immer gesagt, dass die NATO so wichtig ist für uns, unsere Generation kennt es gar nicht anders als mit NATO. Aber ich finde, dass die NATO kritisch gesehen werden muss. Ich denke da an Afghanistan oder den Irakkrieg. Die NATO ist ein Bündnis westlicher Staaten zur Durchsetzung eigener Interessen. Außerdem wird die NATO von Trump in Frage gestellt, während die USA auf einem nicht so demokratischen Weg sind. Da frage ich mich schon, ob dieses Bündnis uns noch eine Sicherheitsgarantie geben kann. Da macht Die Linke alternative Vorschläge, wie man zum Beispiel eine kooperative Sicherheitspolitik in Europa stärken kann, in der Frieden, Entspannungspolitik und Zukunft im Mittelpunkt stehen. Wir sollten mehr mit Ländern, die in Nordafrika oder Westasien in unserer Nähe sind, auf Augenhöhe ins Gespräch kommen. Die europäischen Staaten geben mehr für Verteidigung aus als Russland allein. Da frage ich mich natürlich auch, warum wir nicht verteidigungsfähig sind. Gleichzeitig ist die Bundeswehr in vielen Auslandseinsätzen unterwegs. Ich glaube, dass die Lage der Bundeswehr nicht so dramatisch ist, wie sie teilweise dargestellt wird.
Ich muss jetzt noch einmal nachhaken: Das Sicherheitsbündnis der europäischen Staaten, wäre trotzdem ein militärisches? Es würde im Vordergrund stehen, sich zu verteidigen?
Naja, ich glaube, dass Sicherheit mehr Aspekte hat als Verteidigung. Es sollte der Fokus auf Diplomatie und Zusammenarbeit gelegt und darüber Sicherheit gewährleistet werden.
Stichwort Diplomatie und dadurch Sicherheit gewährleisten, Die Linke fordert einen Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine und mehr Diplomatie, um den Krieg zu beenden, eine Position, die nur AfD und BSW teilen. Wie stehst du persönlich zu dieser Forderung?
Ich stehe hinter der Position der Linken. Waffenlieferungen sehe ich generell kritisch, vor allem in Kriegsgebiete. Ich würde mir stärkere diplomatische Bemühungen wünschen. Man sieht es gut an Trump, der eine Ansage gemacht hat, und auf einmal verändert sich etwas. Die Ukraine und Selenskyj waren dann auf einmal doch bereit wieder zu verhandeln. Ich glaube, das hätte früher passieren können, wenn europäische Staaten Initiative ergriffen hätten. Wir hängen hinterher, wir spielen nicht mehr mit bei den Entscheidungen. Auch in der Linken gibt es andere Meinungen und mit denen rede ich gerne. Letztendlich kommen wir auf den Konsens, dass das große Ziel Abrüstung sein sollte und es weltweit wieder zu friedlicheren Verhältnissen kommen muss.
Das würden wahrscheinlich viele unterschreiben, aber ist es nicht ein wenig unrealistisch? Europa und auch Deutschland werden, wie du selbst gesagt hast, nicht als „Global Player“ gesehen und können, im Gegensatz zu den Großmächten, die gerade aufrüsten, nicht so viel ausrichten. Wäre es nicht für die eigene Sicherheit wichtig, diesen Trend erstmal mitzugehen?
Naja, wie gesagt, Europa hat 500 Millionen Einwohner. Das sind mehr als die USA hat, wir geben mehr Geld für die Verteidigung aus als Russland. Da muss man sich die Frage stellen, was passiert mit anderen Themen, für die dann kein Geld mehr da ist? Was passiert mit anderen Bereichen wie Bildung oder Klimaschutz? Ich befürchte ganz klar, dass in der kommenden Legislaturperiode diese Bereiche gegeneinander ausgespielt werden. Wir werden einen sozialen Abbau sehen, weniger Klimaschutz. Das haben wir bereits im letzten Haushalt gesehen, da wurde stark gespart an beispielsweise der Diplomatie oder internationaler Entwicklungszusammenarbeit. Am Ende wird jeder Euro, der für die Bundeswehr genutzt wird, bei anderen existenziellen Punkten wie dem Klimaschutz fehlen.
Aber Klimaschutz ist auch ein Thema, das wir nicht allein lösen können. Ist es nicht falsch ausgegebenes Geld, wenn Länder wie die USA aus Klimaschutzabkommen austreten oder China weiterhin in Kohle investiert?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Nur weil andere sich daneben benehmen, müssen wir das nicht auch tun. Es gibt viele Länder, die sich sehr stark um den Klimaschutz bemühen, man könnte jetzt auch die positiven Beispiele anführen. Am Ende ist jeder in den Klimaschutz investierte Euro ein guter Euro – vor allem, wenn man die Folgekosten des Klimawandels bedenkt.
Ein weiteres stark diskutiertes Thema ist Migration. Die Parteien der Mitte sind sich mittlerweile einig, dass zum einen die Migration begrenzt werden muss und zum anderen straffällig gewordene Asylbewerber abgeschoben werden sollen. Die Linke ist die einzige Partei, die daran festhält, Migration nicht zu begrenzen, nicht abzuschieben und sich sogar für den Familiennachzug einsetzt. Ist dies eine Position, die noch vertretbar ist, wenn Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung Migration immer kritischer sieht?
Also, zu allererst bin ich dafür, dass Migration anders diskutiert wird. Es ist ein starkes Problem, das mit dem Thema Stimmungsmache betrieben wird. Es gibt Herausforderungen und Komplikationen, aber Asyl ist ein Menschenrecht und ein Grundrecht. Es ist brandgefährlich, dass alle anderen Parteien so einknicken, das wird auch keine Probleme lösen. Natürlich sollten Personen, die eine Straftat begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden, aber dafür haben wir einen Rechtsstaat, der funktioniert. Die Leute kommen in den Knast. Man muss aber natürlich zugeben, dass es Probleme gibt, wenn verschiedene Behörden in einem Demokratieapparat nicht miteinander reden. Der Großteil der Geflüchteten hat sich hier ein Leben aufgebaut. Es gibt eine große Gruppe von Menschen, die nichts getan haben. Das eigentliche Problem ist, dass das Geld fehlt – das sagen die Kommunen seit Jahren. Bieten wir genügend Integrations- und Deutschkurse an? Haben wir eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt? Das sind Aspekte, die in den Vordergrund gestellt werden sollten. Wir brauchen Migration. Ich glaube 400.000 Personen im Jahr, um den Geburtenrückgang und die Boomer, die in Rente gehen, abzufedern. Wir müssen mehr in diese Maßnahmen investieren, alles andere sind meiner Meinung nach Scheindebatten. Wenn wir Migration begrenzen wollen, sollten wir uns über Fluchtursachen unterhalten und dann sind wir wieder bei dem Punkt: Was macht die Bundeswehr in Afghanistan? Was ist mit Klimaschutz?
Ist es jedoch nicht auch eine Scheindebatte zu sagen, wir brauchen Migration? Was wir vor allem brauchen, sind Fachkräfte. Viele der Geflüchteten haben wenig oder keine Schulausbildung. Es gibt Geflüchtete, die sind nicht mal alphabetisiert. Ist es nicht zu kurz gesagt, wenn wir sagen, dass wir Migration brauchen?
Ich glaube nicht. Es hat immer funktioniert, dass Personen, die hierher geflohen sind, einen Deutschkurs machen und dann eine Ausbildung. Teilweise kommen die Personen auch schon mit beruflichen Qualifikationen nach Deutschland. Da haben wir ein Problem mit der Anerkennung von Berufen und mit einem großen Bürokratieapparat, der alles verlangsamt. Hier sollten wir investieren, damit mehr Geflüchtete arbeiten können.
(Lektoriert von jub.)
Kim F. Schmidt ist seit April 2024 Redaktionsmitglied. Sie ist fasziniert von Drama, Intrigen und unerwarteten Wendungen, deswegen studiert sie Politikwissenschaften!