Das Marburger Projekt Probewohnen

Das Marburger Projekt Probewohnen

Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit sind keine Themen, die aufgrund des geringeren Ausmaßes in kleineren Städten an Bedeutung verlieren. Auch Marburg ist da keine Ausnahme. Hier gibt es eine Vielzahl an einzelnen Unterstützungsangeboten. So zum Beispiel: „Betreute Wohnformen“ oder das „Probewohnen für ehemals Obdachlose“.

Für das „Probewohnen“ mietet die Stadt Wohnungen an und stellt sie Menschen zur Verfügung, die aktuell in städtischen Obdachlosenunterkünften untergebracht sind und langfristig Interesse an einem festen Wohnsitz haben. Zusätzlich zu der Wohnung erhalten sie eine sozialpädagogische Begleitung durch Kenneth Verhaal (pädagogischer Mitarbeiter für die Stadt Marburg und der Tagesaufenthaltsstätte (TAS) vom Diakonischen Werk Marburg-Biedenkopf). In persönlichen Gesprächen klärt er mit den Betroffenen, welche Bedarfe und Wünsche sie haben. Auf die „Vermittlungs-Tätigkeit“ am Anfang folgt die „Beziehungsarbeit“, bei der sich beide besser kennen lernen. Ziele für die Zukunft und auch Themen wie die Bezahlung der Miete oder Hilfe-ohne-Betreuung-finden werden gemeinsam erarbeitet. Ziel ist es, nach spätestens einem Jahr in ein reguläres Mietverhältnis überleiten zu können. „Jolly“, der erste ehemals Obdachlose, der das Angebot zum „Probewohnen“ wahrnahm, konnte seinen eigenen Mietvertrag nach einem Jahr unterschreiben. Er stand gemeinsam mit Marburgs Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies dem PHILIPP-Magazin für ein Interview zur Verfügung. Zudem haben im Gespräch Vertreter*innen der Universitätsstadt Marburg – OB Spies, Gabriele Mösbauer, Leiterin des Fachdienstes Wohnungswesen, Monique Meier vom Fachdienst Soziale Leistungen als Sozialplanerin sowie Kenneth Verhaal – über das Angebot informiert.

„Probewohnen“ basiert auf detaillierten Absprachen zwischen der Universitätsstadt Marburg, den mitwirkenden Wohnungs(bau)gesellschaften/Wohnungsunternehmen und den freien Trägern der Wohnungslosen- und Eingliederungshilfe.In der Fallkonferenz beraten sie sich und tauschen sich regelmäßig aus, für welche Personen das Probewohnen sinnvoll sein könnte. Das Angebot ist allerdings nicht für alle geeignet und wird nur von einem Teil der Bewohner*innen in den Obdachlosenunterkünften gewünscht.

Interview

PHILIPP: Hallo Jolly. Welche Erfahrungen hast du mit dem Wohnungslosenkonzept der Stadt Marburg gemacht und wie bist du dazu gekommen?

Jolly: Also, ich war fünfeinhalb Jahre auf der Straße. Durch eine sehr gute Bekannte bin ich in Marburg hängen geblieben und nun seit fast 20 Jahren hier. Ich hab mir selber Ansprechpartner im Sozialamt gesucht, die mich auf meinem Weg begleiten können und wollen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit den Leuten reden kann und sagen kann, welche Bedürfnisse man hat. Ich sollte mir dann einen festen Wohnplatz suchen und die Ansprechpartner im Sozialamt haben für mich nach einer Möglichkeit geschaut, wie ich für mich selber wohnen kann. Sie lassen einem die Wahl, ob man Hilfe in Anspruch nehmen will. 50 Prozent der Leute auf der Straße wollen nämlich gar keine Wohnung. Der Oberbürgermeister steht dahinter und ich hab den Eindruck, dass das sehr menschlich ist und ein Stil, den man unterstützen muss.

Wolltest du denn nach den Jahren auf der Straße selber in eine eigene Wohnung?

Jolly: Ich hab hier gleich eine vorübergehende Unterkunft bekommen. Ich bin jemand, der dann Schritt für Schritt weiterguckt. Man wird auch mal bürokratisch etwas ausgebremst, aber dafür nehmen sich die Leute vom Sozialwesen ein Herz.

Ein Konzept erweckt schnell den Eindruck von etwas zu Dirigierendem. Das Wohnungslosenkonzept ist eher ein Netzwerk. Wie sehen Sie die Stadt Marburg in diesem Konzept?

Spies: Wir als Kommune haben die Pflicht, dass niemand ohne Dach über dem Kopf leben muss. „Nicht müssen“ heißt, dass wir alles tun, um zu verhindern, dass Menschen obdachlos werden, und dass wir alle Schritte unternehmen, damit Menschen aus der Situation wieder herauskommen. Das ist aber nicht damit getan, jemanden einen Schlüssel für eine Wohnung in die Hand zu drücken. Es gibt Menschen, die lange keine eigene Wohnung hatten und viel unter freiem Himmel übernachten. Dann in einer eigenen Wohnung unter eigener Verantwortung zurecht zu kommen, ist eine riesige Herausforderung. Da gibt es vielfältige Hilfebedarfe und negative Erfahrungen darf man da nicht verschweigen.

Unser Ziel ist deshalb nicht nur, dass Menschen nicht obdachlos sein müssen, sondern dass wir Angebote machen können, die für beide Seiten funktionieren. Dafür brauchen wir Partner – das können wir gar nicht alles alleine. Die Rolle der Stadt ist vor allem die Organisation und Finanzierung, auch mit Gegenstimmen, aber es funktioniert, weil sich alle Beteiligten genau in die Probleme hineindenken. Dabei gehört es auch zur Freiheit eines jeden Menschen, ein solches Angebot für sich als angemessen zu empfinden oder nicht. Deswegen dieses Gesamtkonzept – weil die Menschen bei jedem Schritt große Unterstützung brauchen. Die Tagesanlaufstelle mit Übernachtungsheim funktioniert gut, aber von da aus sind es noch mehrere große Schritte bis zur eigenen Wohnung. Unser Anspruch ist, dass das auch ein Weg in die soziale Gemeinschaft bedeutet; in ein „Haus“, in dem Leute bunt gemischt zusammenleben, in all das, was Teilhabe am sozialen Leben ausmacht. So entstanden die Idee und das Projekt des Probewohnens. Wir hoffen, dass es Menschen, die lange obdachlos waren, auch ein Stück Angst nimmt. Ich bin dankbar für die Arbeit, die alle Beteiligten hineinstecken – und sie können sehr stolz darauf sein, was mit ihrer Arbeit erreicht wird.

Wie haben Sie das Feedback bisher auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen?

Spies: Bisher haben wir nur positive Reaktionen erhalten. Dass Menschen auf der Straße leben müssen, ist eine Vorstellung, die auch mich persönlich sehr mitnimmt. Wen das nicht bewegt, der sollte keine Politik machen. Und das bewegt auch ganz viele andere Menschen, die mir beispielsweise Mails schreiben, oder sich an uns wenden. Ich finde das klasse und es sagt viel über diese Stadt und die Menschen, die hier leben, aus. Trotzdem darf natürlich jede und jeder auf der Straße leben, der oder die das möchte. Ich kann das aber nur dann in Ordnung finden, wenn die Betroffenen wissen, dass es eine Alternative gibt, wie die aussieht und welche Unterstützung sie dafür bekommen. Sonst haben wir nicht genug getan.

Wie war das bei dir, Jolly; wie hast du die Betreuung empfunden?

Jolly: Ich gehe direkt auf Leute zu und hatte nie das Gefühl, dass ich kontrolliert werde. Mein Vermieter ist zufrieden mit mir und mit meinem Hausmeister bin ich auf einer Wellenlänge. Der sagte, er habe noch nie einen so ruhigen Menschen im ganzen Block gehabt.

Wo sehen Sie sich und wo wollen Sie hin, gerade mit der medialen Aufmerksamkeit und dem Vertrauensgewinn über erfolgreiche Projekte, Herr Spies?

Spies: Wir möchten immer besser werden, so dass wir für jeden Hilfe suchenden Menschen ein Angebot machen können, um ohne Zwang möglichst schnell und konsequent weiterhelfen zu können.

Bist du denn jetzt schon in einem privaten Mietverhältnis und wo siehst du dich rückblickend jetzt, Jolly?

Jolly: Seit vergangenen Sommer hab ich einen Mietvertrag. Anfangs habe ich immer wieder ausprobiert, ob der Schlüssel auch wirklich passt und bin durch die Wohnung gelaufen, ob das auch meine Wohnung ist. Ich genieße jetzt, die Tür zu machen zu können und Ruhe zu haben. Dass nicht jemand reinkommt, wie in den Unterkünften.

Fühlst du dich auch gesellschaftlich reintegriert im Vergleich zu deinen Jahren auf der Straße?

Jolly: Ich würde das nie mit der Straße messen. Da hab ich fünfeinhalb Jahre gelebt. Ich hab mich angepasst, keiner fühlt sich gestört und ich komme mit den Leuten gut klar.

Neben den städtischen Obdachlosenunterkünften am Ginseldorfer Weg bietet die Stadt Marburg 14 Schlafplätze in ihrem Übernachtungsheim in der Gisselberger Straße. Derzeit sind rund 40 Menschen in den Obdachlosenunterkünften untergebracht. Sechs Wohnungen wurden bis heute für das „Probewohnen“ zur Verfügung gestellt – zwei von der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte/Wohnstadt, zwei Wohnungen von der GeWoBau, eine bei der Wohnungsgesellschaft mbH Hessen (GWH) und eine von einem privaten Vermieter. Ein Probewohnen ging bereits in ein reguläres Mietverhältnis über, zwei weitere starteten zum 1. Februar, für zwei Wohnungen finden derzeit Gespräche mit potentiell Probewohnenden statt und ein weiteres Probewohnverhältnis ist ab dem 1. Juni geplant.

Die Bereitstellung von geeigneten Wohnungen ist die Basis für das Angebot. Weitere Menschen, die derzeit in den städtischen Obdachlosenunterkünften untergebracht sind, warten noch auf Wohnungsangebote. Die Universitätsstadt Marburg hofft darauf, neben den Wohnungsgesellschaften zukünftig auch weitere private Vermieter*innen für das Angebot des Probewohnens gewinnen zu können. Angebote können an soziales@marburg-stadt.de gerichtet werden.

Hintergrund

„Probewohnen für ehemals Obdachlose“ ist ein Angebot im Zusammenhang mit dem Wohnungslosenhilfekonzept, für das es bereits 2010 erste Entwürfe und Ideen für neue Angebote vom Diakonischen Werk gab. Das erste Gesamtkonzept für die Marburger Wohnungslosenhilfe wurde 2014 von der Stadt Marburg vorgelegt[1] und 2015 mit den Mitgliedern des Runden Tisches Wohnungslosenhilfe verabschiedet. Zur schrittweisen Umsetzung des Gesamtkonzeptes erarbeiteten die Mitglieder der Arbeitsgruppe (AG) des Runden Tisches eine Kooperationsvereinbarung zum „Probewohnen“, die am 12. Dezember 2017 von allen Beteiligten unterzeichnet wurde und als gemeinsame Grundlage für das Angebot „Probewohnen“ dient. Am 26. März 2018 konnte die erste Wohnung für das Probewohnen von der GeWoBau angeboten werden.


© Simone Schwalm, Stadt Marburg

Die AG arbeitet an der Umsetzung und Weiterentwicklung des Konzeptes – dafür treffen sich die Vertreter*innen regelmäßig. Die Geschäftsführung der AG liegt bei der Sozialplanung der Stadt Marburg. Zu der AG gehören:

·         AKSB

·         Diakonisches Werk Marburg-Biedenkopf

·         Eingliederungshilfe Marburg

·         GeWoBau

·         GWH

·         Hephata

·         SHM

·         Marburger Stadtverwaltung (Oberbürgermeister und zuständiger
Dezernent Dr. Thomas Spies; der Fachbereich Arbeit, Soziales und Wohnen unter der Leitung von Peter Schmidt; der Fachdienst Wohnungswesen unter der Leitung von Gabriele Mösbauer; der pädagogische Mitarbeiter Kenneth Verhaal und Sozialplanerin Monique Meier vom Fachdienst Soziale Leistungen)

·         Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte/ Wohnstadt

·         Servicecenter Marburg


Die Unterlagen und sämtliche Protokolle der AG „Wohnungslosenhilfe“ sind online verfügbar unter www.marburg.de/wohnen.


[1) Im Auftrag des ehemaligen Oberbürgermeisters Egon Vaupel sollte 2014 für die beiden Standorte im Ginseldorfer Weg und in der Gisselberger Straße unter breiter Beteiligung ein Gesamtkonzept erstellt werden. Daraufhin wurde der Runde Tisch „Wohnungslosenhilfe“ gegründet. Das Gesamtkonzept wurde in einer Sitzung des Runden Tisches im Februar 2015 mit allen beteiligten Trägern und Einrichtungen abgestimmt und verabschiedet. Die Umsetzung der konzeptionellen Überlegungen ist in den politischen Gremien einstimmig beschlossen worden. Auf der Grundlage der positiven Beschlussfassung erfolgte eine Präzisierung und Klärung von Detailfragen mit allen Beteiligten.

Foto:Erich Westendarp

studiert Politikwissenschaften, verbringt zu viel Zeit um sich über die BILD aufzuregen und isst süßes und salziges Popcorn gemischt.

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