Erst mal dancen

Erst mal dancen

Play hard, swing hard. Eine Hommage an die biederen 50er und schwingenden 60er in Marburg vereint heimatliche Memoiren und Tanzbeinvibration in Susanna Kolbes „Erst mal in die Milchbar… Geschichten und Anekdoten aus Marburg“. Eine Rezension.

Erinnerungen tragen wir zeitlebens in uns. Von sch.n bis schaurig, tröstlich, herzerwärmend und einmalig kann alles dabei sein. Und neben Ereignissen können sie auch Emotionen in uns wecken. Wie man damit umgeht? Man kann sie feiern, über sie lamentieren oder sie aufrichtig lieben. Letzteres hat wohl auch die Autorin Susanna Kolbe getan. In ihrem 2011 erschienenen Werk mit dem einladenden Titel „Erst mal in die Milchbar…Geschichten und Anekdoten aus Marburg“ (Wartberg Verlag) schildert sie die bewegenden Erinnerungen aus der subkulturelle Szene, den Clash und Lifestyle junger Marburger*innen der 50er und 60er Jahre.

Eine Stadt im Aufbruch

Zentral reflektiert die Autorin im eigenen Erzählstil die Entwicklung und den Fortschritt der Stadt Marburgs und konzentriert den Blick auf die persönliche Wiedergabe verschiedener Zeitzeug*innen. Wie in einem Heimatbuch. Bereits auf den ersten Seiten erfährt man einiges, was unserer Generation vermutlich neu ist – wie zum Beispiel, dass sich die Stadt Marburg stolze Besitzerin einer Straßenbahn nennen konnte. Die Autorin setzt mit einem retrospektiven Einstieg der frühen Marburger Jahre an: Die Nachkriegszeit erlebt neben dem ökonomischen einen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung, es wird ordentlich in die Hände gespuckt, damit die Marktwirtschaft floriert. Spätestens mit dem zunehmenden Ausbau von Wohnraum und Fläche zeichnet sich immer mehr ein modernes, charakterliches Stadtbild ab. Daneben wird über die Kindheit berichtet und die infantile Wahrnehmung wird zum Inbegriff einer Dokumentationsrealisierung: Eine scharfe Rekapitulation von Erinnerungen. Den größten Teil der Aufzeichnungen nimmt in Kolbes Erinnerungsansammlung jedoch im Wesentlichen die Musik ein. „Was für die einen die Beatmusik war, war für die anderen der Jazz“ – lautet die lakonische Antwort auf die Frage nach der substanziellen Aspiration eines neuen Zeitgeistes. Sowohl der Kult, als auch die Stimmung und gegenstandslose Art und Weise, was man damals unter Tanzvergnügen verstand, ist ausreichend und eindrucksvoll bebildert. Und mehr noch: Die Kleinstadt versprüht einen ganz schön elektrisierenden Charme. Das sehen auch die jungen Leute so. „Party ist, was du draus machst“ oder: „Jazz und Dixieland feiern“ sind die Mottos, nach denen sie leben. Zwischen elektrisch verstärkten Tönen und schallgedämpftem Becken erschallt Beatmusik und junge Frauen geben sich in Petticoats dem rhythmischen Tanzgelage hin. Eine Musik, die den Spirit der Zeit zelebriert und die Transzendenz des Augenblicks einholt. Gemessen an der epochalen Feinfühligkeit im Schreibstil erreicht Kolbe die Vermittlung von Authentizität, lässt jedoch gleichzeitig die Verwundbarkeit des kleinstädtischen Exzesses vermissen.

Jazz und Dixie feiern

Sie schreibt vom Wandel der Stadt und der Vielfalt, die die Marburger Musikszene hervorkehrt. Die Autorin bemüht sich leicht und präzise das Geswinge und das Image der verruchten Jugendkultur Anfang der 1960er einzufangen – was ihr auch gelingt. Im Youth-in-revolt- Stil wird im E-Club polarisiert, mit den Beatles mitgefi ebert und in der Milchbar auf das WhoÅLs Who der damaligen Zeit getroffen. Ohne diese Zeitreise wüsste der Leser vielleicht nicht, dass „Stripperbands“ nur eine Gruppe junger Musiker identifiziert, die durch die Clubs ziehen. Dennoch sucht man zwischen den Geschichten und Anekdoten derart rebellische T.ne vergebens. Weder wird von Aufständen gegen Burschis berichtet, noch scheint es unter den Studierenden hinsichtlich der beengten Wohnverhältnisse Unmut zu geben. Lediglich von einem Aufschrei, als eine Studentin bei einem Stelldichein mit einem Mann in flagranti von der Hauswirtschafterin des Wohnheims überrascht wurde, wird berichtet. Das llässt auf eine konservative Moralvorstellung rückschließen, die auch in Marburg existierte. Denn das Tête-à.Tête der Studentin blieb nicht ohne Konsequenzen: Ihr wurde kurzerhand und schonungslos das Zimmer gekündigt. Die Nostalgie, die der*-die Leser*in als Anspruch an diese kleine Zeitreise stellen mag, wird den Erwartungen gerecht. Die Schilderungen über die Freizeitgestaltung, die der damaligen Jugend mindestens genauso subversives Vergnügen bereitet wie der heutigen, intensiviert das Gefühl von unnachgiebiger Sorglosigkeit und Präsenz. Geradlinig und unverkrampft, eröffnet die Autorin die Pforten in eine vergangene Zeit und porträtiert ein Marburg, das nicht nur im Glanz und Gloria schimmert. Kolbe schreibt über reale Begebenheiten, die, von der Beschleunigung durch Zeitverdichtung dominiert, eine nonkonformistische Sicht auf die Dinge geben: Eine Kleinstadt mit der ein oder anderen Einzigartigkeit. Letztlich bleibt nur das eigene Résumé: Die Bedeutsamkeit dieser Geschichten prägen insgesamt ein Sammelsurium neu aufb ereiteter Momenterinnerungen und das sentimentale Sinnieren über die Kindheit und Jugend. In diesem Sinne passt deshalb vielleicht auch ein Zitat von Maurice Chevalie am Schluss: „Erinnerungen sind wie Konserven, ein bisschen schön gefärbt und deshalb nicht ganz unschädlich.“

NEU_ErstmalindieMilchbar_04_Wartberg VerlagSusanna Kolbe:
„Erst mal in die Milchbar…
Geschichten und Anekdoten aus Marburg“.
Wartberg Verlag, Gudensberg 2011. ISBN:
978-3-8313-2124-7, 178 S.,
gbr. 11,00 Euro.

FOTO: Ryan Derry auf flickr.com, CC-Lizenz

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