Ich will (bloß keine) Volksentscheide!

Ich will (bloß keine) Volksentscheide!

Die Einwohner:innen Großbritanniens haben sich knapp für einen EU-Austritt entschieden. Während einige sich auch in Deutschland zumindest die Möglichkeit wünschen, dem Volk ein Instrument direkter Demokratie zukommen zu lassen, verweisen andere auf die Gefahr, komplexe Fragen auf ein Ja oder Nein zu reduzieren.

PRO von Maik Kristen

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in unserer Verfassung, nämlich durch Wahlen und auch durch Abstimmungen. Und während wir oft genug von Wahlen haben – sie ändern nach dem gesellschaftlichen Grundgefühl ja ohnehin nichts –, umso mehr lechzen wir nach eben diesen Abstimmungen, nach einem Mehr an Beteiligung als „alle vier Jahre ein Kreuz setzen“. Dieses Kreuz wird bei Volksabstimmungen zwangsläufig neben einem Ja oder Nein stehen. Daraus aber zu folgern, dass dadurch keine komplexen Themen entschieden werden könnten, ist falsch. Es kommt allein auf die Formulierung der Frage an, und schon diese kann und muss im Vorfeld einer Abstimmung diskutiert werden. Dadurch werden in der Regel auch nicht Extrempositionen zur Abstimmung gestellt, sondern nur solche, die bereits eine Diskussion überlebt haben. Natürlich käme de facto nur ein weiteres Kreuz auf einem Zettel dazu, es ist aber ein Kreuz mit großer Verantwortung für die Wähler:innen. Eine Abwälzung der Schuld auf die Politiker „da oben“, kann nun nicht mehr stattfinden, die Volksgemeinschaft ist es, die in ihrer Gesamtheit eine Entscheidung trifft.

Dies zeigt schon, dass Volksentscheide eine große Pflicht mit sich bringen. Zum einen an die Politiker:innen, die lernen sollten weitestgehend sachlich zu argumentieren und mögliche persönliche Vorteile durch ihr präferiertes Wahlergebnis nicht in den Vordergrund zu stellen. Das gilt aber nicht nur bei Volksentscheiden, sondern ganz allgemein ist es eben das, was ihre Arbeit zu einer gewissenhaften macht. Tun sie es dennoch, wird das Volk es ihnen schon am Morgen nach der Wahl übel nehmen und sie abstrafen. Aber natürlich trifft auch die Einwohner:innen eine große Pflicht. Sie müssen abwägen und für die Zukunft denken können, sie dürfen die Weichen des Landes stellen. Auf kommunaler und Länderebene wird ihnen dies zugemutet, und auch das Grundgesetz hält das Volk für verantwortungsbewusst. Es kann grundsätzliche Fragen entscheiden, und wenn es dies dann auch endlich darf, wird es merken, dass Wahlen doch etwas ändern, dass ihre Stimme dazu beiträgt, und dass es sich lohnt, auf allen Stimmzetteln ein Kreuz zu setzen.

 

CONTRA von Patrick Scheuermann

Ist es möglich, für Demokratie einzustehen und Volksentscheide gleichzeitig zu kritisieren oder sie gar abzulehnen? Selbstverständlich, denn Volksentscheide blenden den Kern einer jeden politischen Debatte aus. Ein Kernproblem der Volksentscheide liegt in ihrer naiven Annahme, man könne alle politischen Fragen mit einem simplen Ja oder Nein beantworten, als gebe es für alles auf der Welt zwei Antworten. Doch leider kann man Politik nicht derart vereinfachen, wenn man eine offene Diskussion will. Die Fixierung auf zwei Wahlmöglichkeiten führt zu einer Emotionalisierung der Debatte. Wer beispielsweise für ein Windradverbot stimmt, dem ist der Klimawandel egal. Wer gegen ein Windradverbot stimmt, dem ist das unbeschadete Aufwachsen unserer Kinder egal. Ein Volksentscheid über ein so emotionales Thema würde zu einer Spaltung führen, eine parlamentarische Debatte dagegen zu einem Kompromiss: Windräder JA, ABER mit Mindestabstand zu Siedlungen. Der Kompromiss – da ist er – der eben angesprochene Kern einer jeden politischen Debatte. Volksentscheide meiden Kompromisse, wirken sie doch träge und feige, und sind zugleich die einzige demokratische Möglichkeit zwei gegenüberstehende Positionen zu vereinen. Kompromisse verhindern die unnötige Polarisierung in zwei Lager und nehmen populistischen Spalter:innen den Wind aus den Segeln.

Populist:innen sind die großen Gewinner in Volksentscheiden, Bildungsbürger:innen die großen Verlierer, denn Bildung ist das letzte, was einen Volksentscheid entscheidet. Wer braucht schon Studien, Fakten und Expert:innenmeinungen über die längerfristigen Folgen einer politischen Entscheidung, wenn da eine:r die einfachsten Lösungen lautstark in den Wind schreit? Lösungen, die selten bis zum Ende durchdacht und mit Emotionen überladen sind und auf Protest aufbauen. Protest kann aber kein Motor für den Fortschritt sein. Vielmehr kann er der Auslöser für Politiker:innen sein, umzudenken, ihre Positionen zu hinterfragen und auf die Sorgen und Ängste des Volks zu reagieren. Protest kann und darf in einer Demokratie nie die Entscheidungsgewalt vollständig einnehmen, da einzelne Meinungen in der breiten Masse untergehen würden. Häufig sind es diese einzelnen Meinungen, welche skandieren, nur mit Volksentscheiden funktioniere Demokratie. Mir stellt sich dabei die Frage, wie das System der repräsentativen Demokratie dann die letzten Jahrzehnte überlebt hat?

Befürworter:innen von Volksabstimmungen sind dagegen meist feige und faul. Sie bemängeln Wahlen mit niedrigen Wahlbeteiligungen, die hohe Wahlbeteiligung bei Volksabstimmungen sehen sie als Bestätigung des Systems der Volksabstimmung. Dabei ist es ein Armutszeugnis. Es muss unsere Aufgabe sein, Politik den Bürger:innen wieder schmackhaft zu machen. Das bedeutet nicht, sie uninformiert oder gar falsch informiert Politik machen zu lassen, sondern sie für Politik zu begeistern, nicht für einzelne politische Probleme und Fragen, sondern für den Weg, den ein Land gehen soll. Diesen Weg kann das Volk souverän lenken, steuern und definieren. Das Volk kann durch Proteste den Politiker:innen Stolpersteine in den Weg legen, wenn ihnen der Weg nicht passt. Das Volk kann aber nicht aus Stolpersteinen einen Weg erschaffen. Dies gelingt nur durch eine wohlüberlegte Stimmabgabe bei regelmäßigen Parlamentswahlen.

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