Kontroverse um freie Wissenschaft: Interview mit Ansprechperson für Antidiskriminierung und Antisemitismus an der Uni Marburg
Ein offener Brief von hunderten Hochschullehrenden gegen die Räumung pro-palästinensischer Proteste an der FU Berlin löste im Mai 2024 eine Kontroverse über Wissenschafts- und Meinungsfreiheit aus. Daraufhin ließ das Bundesbildungsministerium intern prüfen, ob kritischen Hochschullehrerinnen Fördergelder entzogen werden könnten. Im Juli 2024 vermeldete die Bundesregierung in einer offiziellen Antwort, dass der Brief von der Meinungsfreiheit gedeckt sei, bekräftigte aber ihre weiterhin kritische Haltung zum Inhalt. Katharina Völsch ist Leiterin der Stabsstelle Antidiskriminierung und Diversität an der Uni Marburg und beleuchtet in diesem Interview die Spannungsfelder zwischen Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und deren Grenzen.
Die Wissenschaftsfreiheit ist im Grundgesetz verankert. Wieso kann dieser Begriff auch kritisch gesehen werden?
Hinter dem Begriff Wissenschaftsfreiheit, wie er im Grundgesetz steht, stehe ich voll und ganz. Die Verwendung des Begriffs ist jedoch problematisch, wenn der Begriff der Wissenschaftsfreiheit von ultra-konservativen und rechten Akteur*in vereinnahmt wird. In Deutschland haben wir damit keine ausreichende Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher Ebene. Wir müssten uns öfter die Frage stellen, was Wissenschaftsfreiheit bedeutet und eben nicht bedeutet.
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist ein Sammelbecken für rechte und reaktionäre Kräfte. Mitglied ist zum Beispiel der Anwalt von AfDler Björn Höcke, Ulrich Vosgerau, der auch während des sogenannten ‚Potsdamer Geheimtreffen‘ von Rechtsextremen anwesend war. Bis heute hat sich der Vorstand des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit nicht von der Teilnahme Vosgeraus am Potsdamer Geheimtreffen distanziert. Hier wird in Kauf genommen, dass der Begriff der Wissenschaftsfreiheit von rechten Akteur*innen instrumentalisiert wird, die rassistische und antisemitische sowie queer- und transfeindliche Positionen vertreten. Auch der Vorstand des Netzwerkes vertritt selbst öffentliche trans*-feindliche Positionen. Es braucht daher dringend eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wissenschaftsfreiheit, um ihn sich wieder positiv anzueignen und sich kritisch gegen die diskriminierende Verwendung des Begriffs zu positionieren.
Wissenschaftsfreiheit und Ethik
Wie bewerten Sie das Prüfen von Fördergeldern durch das Bundesbildungsministerium?
Also, Wissenschaftler*innen, die an Unis beschäftigt sind, verpflichten sich erstens durch ihren Arbeitsvertrag dazu, das Grundgesetz und damit die freiheitlich demokratische Grundordnung zu achten. Das muss ein Ausgangspunkt für staatliche Förderung sein. Zweitens sollte ethisch angemessenes Verhalten und Vorgehen in der Forschung stärker betont werden. Das zu prüfen, muss jedoch schon bei der Bewilligung passieren, also kontrolliert werden, wer genau sich mit welcher Fragestellung bewirbt. Ich finde es kritisch, wenn erwogen wird, bewilligte Fördergelder im Nachhinein zu entziehen. In diesem Fall zeigt sich auch in der Reaktion des Bundesministeriums auf die Vorwürfe, dass das Prüfen von Fördergelder nicht in Ordnung war.
Widersprechen oder ergänzen sich Wissenschaftsfreiheit und Antidiskriminierung?
In vielen Bereichen der Wissenschaft haben wir ethische Standards und Ethikkommissionen. Diesen Ansatz von ethischer, menschenrechtsorientierter Forschung haben wir schon in vielen Bereichen. Das muss auf alle Forschungsbereiche erweitert werden. Bisher kennen wir das vorrangig aus Lebenswissenschaften (Medizin, Biologie, Chemie usw.), aber das sollten wir auch in Geisteswissenschaften nicht vernachlässigen. Wenn ich geisteswissenschaftlich Menschen, ihr Innenleben, ihre Erfahrungen und sozialen Kontakte erforsche, muss ich ethische Standards anlegen und diese sollten sich an den Menschenrechten orientieren. Das bedeutet auch, dass Abwertungen von bestimmten Menschen oder Gruppen aufgrund von zugeschriebenen Merkmalen nicht ethisch korrekt und auch nicht im Sinne des Grundgesetzes sind. Wissenschaftsfreiheit und Antidiskriminierung stehen nicht im Widerspruch, aber Wissenschaftsfreiheit bedeutet trotzdem nicht, dass ich im Namen der Wissenschaft alles tun und lassen kann, was mir gerade so einfällt. Darüber sind wir hinaus. Gerade in Deutschland hatten wir diese Zeiten, in denen das – vor allem in den Lebenswissenschaften – im Nationalsozialismus möglich war.
Also denken Sie, dass Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Lebenswissenschaften ethische Standards zu wenig institutionalisiert haben?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Auch in den Geisteswissenschaften gibt es ein starkes Bewusstsein dafür, die Perspektiven der Beforschten stärker mit einzubeziehen und ethisch korrekt damit umzugehen. Ich glaube aber, dass vor allem in den Geisteswissenschaften der Begriff der Wissenschaftsfreiheit genutzt wird, um bestimmte nicht menschenrechtsbasierte, politische Positionen zu rechtfertigen. Es gibt Überschneidungen zwischen Wissenschaft und Politik, wenn Menschen an Universitäten lehren, die in ihrer Freizeit politische Ämter für Nazis – wie Björn Höcke ja einer ist – bekleiden. Politik und Wissenschaft kann man so nicht trennen, die lehrende Person gibt den politischen Teil der eigenen Identität ja nicht am Eingang zur Uni ab. Natürlich passiert das jedoch auch in den Lebenswissenschaften.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo Wissenschaftsfreiheit missbraucht wurde, um diskriminierende Ansichten zu verbreiten?
Ein Beispiel wäre die Biologin, welche an der HU Berlin einen Vortrag über Transgeschlechtlichkeit und binäre Geschlechter gehalten hat. In diesem Vortrag hat sie sich eindeutig transfeindlich geäußert und auch außerhalb des universitären Kontextes transfeindliche Einstellungen vertreten. Da gibt es den Versuch, mit der Wissenschaft politische Ziele zu verfolgen.
Diskriminierung und Antisemitismus an Hochschulen
Aktuell wird gelegentlich beklagt, dass das der Vorwurf des Antisemitismus in Zeiten des Israel-Palästina-Konflikts vorschnell fällt. Was denken Sie dazu?
Diese Aussage ist sehr allgemein gehalten. Es ist nicht ganz klar, was genau gemeint ist. Im Grunde erleben Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind – sei es Sexismus, Antisemitismus oder Rassismus – diese sehr häufig und im Alltag. Dadurch entwickeln sie ein feines Gespür dafür, wann etwas diskriminierend ist. Aus der Sicht von Außenstehenden, also Menschen, die selbst keine Diskriminierung erfahren, könnte es daher so wirken, als würden Betroffene schnell mit Vorwürfen reagieren. Der Vorwurf, dass etwas zu schnell als Antisemitismus bezeichnet wird, ist darüber hinaus auch eine typische Abwehrreaktion, wenn Menschen oder Institutionen mit Diskriminierungsvorwürfen konfrontiert sind.
Wie können wir als Gesellschaft einen konstruktiveren Umgang damit finden, wenn sich Personen diskriminiert fühlen, obwohl das Gegenüber möglicherweise unbewusst oder gar nicht diskriminiert hat, und wie lässt sich in solchen Situationen ein fairer Aushandlungsprozess gestalten, der die Perspektiven und Erfahrungen beider Seiten respektiert?
Ich glaube wir brauchen auf individueller Ebene und auch als Gesellschaft eine bessere Fehlerkultur. Daher dass Menschen nicht sofort in Abwehrhaltung gehen, wenn sie mit Diskriminierungsvorwürfen konfrontiert sind, sondern erst einmal ihr eigenes Verhalten und vorhandene unbewusste Vorannahmen überprüfen. Das ist auch für Betroffene von Diskriminierung äußerst wichtig, da die Abwehrhaltung für sie oft eine sekundäre Traumatisierung bedeutet, also durch die Abwertung und Abwehr ihrer Erfahrung sich die diskriminierende Erfahrung noch verstärkt. Wir müssen miteinander im Gespräch bleiben, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist und gleichzeitig die schweren und langfristigen Verletzungen, die durch Diskriminierung entstehen anerkennen. Dafür brauchen wir mehr sichere Räume für Dialog auf Augenhöhe.
Was raten Sie Studierenden, die Diskriminierung an der Uni erleben?
Nicht nur Studierenden, sondern auch allen anderen Beschäftigten an der Uni steht offen, sich bei uns in der Antidiskriminierungsstelle Beratung zu suchen. Die Beratung ist parteilich mit den Ratsuchenden, unabhängig und unterliegt der Schweigepflicht. In der Beratung schauen wir dann, was die Ziele der Ratsuchenden sind, was ihnen beim Umgang mit der Erfahrung und persönlich helfen könnte. Daraus ergeben sich meist individuelle Möglichkeiten: Klärungsgespräche, schriftliches Dokumentieren des Vorfalls bis hin zum Verweis an andere Beratungsstellen oder einer Beschwerde im Rahmen unserer Antidiskriminierungsrichtlinien gegen die Person, gegen die sich der Diskriminierungsvorwurf richtet.
Bildungsgerechtigkeit und Wissenschaftsfreiheit
Nicht alle Menschen haben überhaupt die Möglichkeit, an der Wissenschaft teilzunehmen. Ist Bildungsgerechtigkeit auch ein Teil von Wissenschaftsfreiheit?
Ich denke, dass man Wissenschaftsfreiheit auch als Zugangsmöglichkeit zur Wissenschaft verstehen kann. Es ist ja auch durch Zahlen belegt, dass wir einen Gender Gap in der Wissenschaft haben. Je weiter in der Karriereleiter es hoch geht, umso mehr finden sich da die weißen, heterosexuellen, nicht behinderten Männer. An der Philipps-Universität sind circa die Hälfte der Bachelorstudierenden weiblich. Wenn wir uns dann jedoch die Master- und Promotionsquoten sowie die Anteile in der darauffolgenden wissenschaftlichen Karriere anschauen, dann sinkt der Anteil der weiblichen Personen. Ähnliches sehen wir bei Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund oder bei Erstakademiker*innen. Das hat ganz viel mit struktureller Benachteiligung zu tun. Das ist für mich jedoch eher Teil der Idee der Bildungsgerechtigkeit und weniger der Idee Wissenschaftsfreiheit. Ich finde den Gedanken aber interessant, das zusammen zu denken. Denn umso weniger vielfältig die Forschenden sind, umso weniger vielfältig sind wahrscheinlich auch ihre Perspektiven.
Biografie
(Lektoriert von hab.)
studiert im Master 'Soziologie' und 'Literaturvermittlung in den Medien'. Seit 2022 in der Redaktion sowie im Lektorat aktiv und seit Januar 2023 Chefredaktion von PHILIPP.