Postdramatisches Theater für Anfänger: Kosmonaut:in

Postdramatisches Theater für Anfänger: Kosmonaut:in

Lukas Schiller hat mit dem Stück „Kosmonaut:in“ die 20. Inszenierung des betreff:theaters auf die Bühne gebracht. Es wurde am 7., 8., 9. und 16. Juli in der Waggonhalle aufgeführt. Unser Autor ist Theaterneuling und hat von dem Stück über das Theater gelernt. 

Dora (Marlene Müller) hat sich da etwas überlegt. Auf einer Party erzählt sie Emilia und Bella von ihrer Idee einer revolutionären Theaterszene: Ein Liebespaar wird in einem innigen Moment von Helmut Kohl – natürlich dem Echten – mit einem Laubgebläse gestört. Und dann ist er auch noch als Papst verkleidet. Spätestens hierdurch sollte, Doras Meinung nach, auch dem letzten Zuschauer klar werden, dass „die kapitalistische Verwertungslogik keine Liebe zulässt“. In solchen Phantasmen gefangen finden sich die Protagonistinnen von „Kosmonaut:in“ wieder. Sie greifen nach den Sternen und verlieren dabei den Boden unter den Füßen. Wie echte Kosmonaut:innen eben. „Für mich geht es bei Kosmonaut:in um die Widersprüchlichkeit der Liebe . Selbst wenn sich zwei Menschen noch so sehr lieben, kann deren Liebe an unterschiedlichen Lebensentwürfen zerbrechen.“, erklärt Marlene Biebricher. Geht es nun um die Unmöglichkeiten der Liebe oder die Orientierungslosigkeit der angeblichen Generation Y? Vermutlich um beides. Und mehr. Das Stück ist offen für verschiedene Lesarten. Weder lässt sich der eine rote Faden spinnen noch der Vorwurf machen, dass es selbigen nicht gibt.

Ich mache den Tisch jetzt kaputt  

Trotz des wohl vorhandenen roten Fadens frage ich mich: “Was geht hier eigentlich ab?“ . Es ist der zweite Theaterbesuch meines Lebens und bisher ist mir nicht bewusst gewesen, dass das Theater Themen aufbereitet, die mich betreffen. Überhaupt, dass dort eine Sprache gesprochen wird, die auch meine ist. Deshalb trete ich an dieser Stelle aus meiner Rolle als neutraler Berichterstatter aus dem Text hervor. In der Hoffnung, dass ihr, liebe Leser:innen –sofern Ihr in puncto Theater etwa genauso unwissend wie ich seid– mit mir zusammen etwas lernen könnt. Und um keine falsche Expertise vorzugaukeln. Das kann als Metapher für das postdramatische Theater, wie es auch in Kosmonaut:in gespielt wird, gelesen werden. Denn das, so erklärt es mir Marlene, thematisiert sich auch selbst. Selbstreferenziell könnte man das nennen. Es versucht eben nicht vorzugeben etwas anderes als Theater zu sein. Ein Wesensmerkmal des Postdramatischen Theaters ist auch die Neukombination vorhandener Stücke. Kosmonaut:in setzt ein stringentes Ganzes aus Versatzstücken der Weltliteratur und Popkultur zusammen. So kombiniert das Stück, was eigentlich nicht zusammengehört. Einerseits wird beispielsweise auf ein Streitgespräch aus dem Jahre 1971 mit dem ehemaligen Ton Steine Scherben Frontmann Nikel Pallat mit dem Musikproduzenten Rolf-Ulrich Kaiser angespielt. Weil Kaiser Pallats Meinung nach als Kapitalist die Unterdrückung in der Massengesellschaft unterstützt, macht er „deswegen jetzt hier diesen Tisch mal kaputt.“ Genau, wie sich Charlie nach einem ernüchternden Gespräch über die Auswirkungen des Theaters auf gesellschaftliche Transformationsprozesse entschließt „jetzt hier diese Skulptur mal kaputtzumachen“. Andererseits wird mit Nietzsches Amor Fati geflirtet, wenn Charlie von einem Traum erzählt, in dem ihr eingeflüstert wird jeden Gedanken, jede Freude und jedes Leid ihres Lebens am Ende gleich einem Perpetuum mobile auf ewig wieder und wieder zu erleben. Ihr größter Schrecken dabei: Niemals nach dem Abi Work and Travel in Australien gemacht zu haben. Ein Luxusproblem? Ein Luxusproblem.

Namedropping und Querverweise

Was dem Stück dienlich ist, wird übernommen und verarbeitet. Die Textvorlagen sind nicht mehr und nicht weniger als theoretische Werkzeugkisten, derer sich Regisseur Lukas Schiller und seine Assistenz Annabelle Behnke, Olufemi Just Atibioke und André Schönherr bedienen. Die Koketterie mit im Theatermilieu als en vogue geltenden Persönlichkeiten wird lächerlich gemacht. Mehrfach setzt die prätentiöse Dora zum Namedropping an: „Pollesch hat ja mal gesagt…“. Als sie schlussendlich zu Wort kommt, erzählt sie, dass Pollesch einmal gesagt hat, dass jeder selbst dafür sorgen muss, dass Romeo und Julia auch die eigene Liebesgeschichte ist. Es geht um den in Friedberg geborenen René Pollesch, der in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften studiert hat. Durch seine polarisierenden Inszenierungen an der Berliner Volksbühne hat der Theatermacher Kultstatus erlangt. Vermutlich wird er nicht nur seiner ehemals räumlichen Nähe zu Marburg wegen in das Stück aufgenommen, sondern weil er in seinen Stücken ebenso den Status quo der modernen Liebe infrage stellt und postmoderne Lebensentwürfe karikiert.

Das Neutrum, der Text 

Und so könnte die Liste der Querverweise wohl ewig fortgeführt werden. Das ist aber nicht notwendig. Nicht nur weil es langsam langweilig wird, sondern weil Kosmonaut:in als Ganzes doch mehr als die Summe seiner Einzelteile ist. Jede Szene findet in einer eigenen Szenerie statt.  Das Bühnenbild wurde von Rubens Präg angefertigt. Während der Szenenwechsel wird die Bühne abgedunkelt und mit Musik bespielt. Für die wiederum ist André Schönherr zuständig gewesen. Teilweise hat er den Soundtrack komplett selbst produziert, teilweise sample-basiert gearbeitet. Seine Musik hat nebst dem obligatorisch gedämmten Licht dazu beigetragen, dass der Sog des Stückes auch während der Umbaupausen nicht verloren geht. „Rein zufällig sind alle Schauspieler des Stückes weiblich“, erzählt mir Marlene. Der Genderaspekt wird nicht explizit thematisiert. Zwar gibt eine leidenschaftliche Beziehung zwischen Dora und Emilia (Hannah Bernstein). Aus der Gleichgeschlechtlichkeit ihrer Liebe möglicherweise resultierende Konflikte gibt es aber keine. Da sind eben zwei Mädchen zusammen. Das spielt wahrscheinlich auch deshalb keine Rolle, weil im postdramatischen Theater die Schauspieler keine vollständigen Subjekte verkörpern, sondern lebendige Texte. Und Text hat kein Geschlecht. Dafür sprechen auch die Namen der Charaktere: Antonia (Anne Hart), Bella, Charlie (Maria Werner), Dora und Emilia. Das kleine Alphabet der Depersonifikation.

Dirty Dancing 

Die sichtliche Spielfreude der Schauspielerinnen macht es schwer die Aufmerksamkeit vom Bühnengeschehen zu wenden. Ja, wirklich. Ich habe es versucht. Noch dazu kam, dass ich die letzte Vorstellung besucht habe, die mit einer Reihe von teilweise auch für die Beteiligten Überraschungen gespickt war. Aus einem Schneidemesser macht Hannah Bernstein kurzerhand eine Machete und Maria Werner hat gemeinsam mit André Schönherr unter lautem Gelächter des Publikums das ikonische Finale von Dirty Dancing nachgestellt. Aber wie genau soll ich die schauspielerische Leistung bewerten? Ich habe ja – wir erinnern uns – eigentlich keine Ahnung von Theater. Und dafür habe ich doch recht viel aus dem Stück mitgenommen. Selbst wenn es nur das Bild eines als Papst verkleideten Helmut Kohls ist.

FOTO: Denise Mason 

MITMACHEN: Habt ihr Lust bei der 21. Produktion mitzuspielen? Mehr Infos gibt’s auf Facebook und hier.    

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