Marburg auf Standby: Elena in Italien

Marburg auf Standby: Elena in Italien

Fotos: privat

In unserer Reihe Marburg auf Standby berichten Marburger Studis von ihren Auslandsaufenthalten. Diesmal Elena, die ihr Auslandssemester in Rom verbringt. Wie ihr am meisten aus eurer Erasmus-Erfahrung herausholt, welche unangenehmen Momente sich nicht vermeiden lassen und wieso der November gar nicht so schlimm ist, lest ihr hier.

Zeit funktioniert anders in großen Städten. Wenn man in Marburg irgendwohin eine halbe Stunde braucht, kommt einem das lang vor, eine halbe Stunde Weg in einer Großstadt dagegen ist ein kurzer Weg. Zeit funktioniert nochmal anders in einer italienischen Großstadt wie Rom. Man merkt es überall: Die Tage sind länger als in Deutschland, das Tempo, in dem sich die Römer*innen fortbewegen ist langsamer, gemütlicher und sechs Monate fühlen sich an wie ein paar Wochen und gleichzeitig mehrere Jahre. 

Du hast dich also entschieden, Erasmus zu machen, und wirst deine nächsten sechs Monate in der italienischen Hauptstadt verbringen. Nach etwa 14 Stunden Zugfahrt kommst du am Termini, dem Hauptbahnhof in Rom, an.

Dinge die dir bei der ersten Fahrt in dein Zuhause für das nächste halbe Jahr auffallen: 

  • Ruinen: Wie präsent die Geschichte in der ganzen Stadt ist, auch in Deutschland ist Geschichte immer sehr präsent, aber in Italien fällt auf, wie doll sie Teil des Alltags ist: Eine wunderschöne 2000 Jahre alte Ruine ist hier nichts Besonderes, es flackert lose ein rot weißes Absperrband um sie.
  • Der Geruch der Pinienbäume.
  • Viel mehr Leute tragen Kabel-Kopfhörer.
  • In der Metro wird für jedes Sternzeichen täglich ein neues Horoskop gezeigt – und zwar nicht die netten Bravo-Horoskope, wo einem nie was Schlechtes passiert, sondern die brutalen, wo es sein kann, dass du in allen drei Kategorien ArbeitLiebe und Gesundheit nur einen von 5 Kreisen hast. Gute Weiterfahrt und schönen Tag damit noch.
  • Rom ist keine saubere Stadt.
  • Die alten Metros hören sich an, als würden sie beim Fahren auseinanderfallen.
  • Voller Verkehr: Rom ist nicht überall fußgänger*innen- und schon gar nicht fahrradfreundlich. Eigentlich ist die Stadt auch zum Autofahren nicht ideal, weil sich der Verkehr sehr oft staut. Nur Vespas schlängeln sich durch den stehenden Verkehr bis ganz nach vorne durch.

Es ist also Anfang September, die Temperaturen erreichen jeden Tag noch knapp an die 30 Grad, aber die Touris werden langsam weniger und die Uni beginnt erst in einem Monat. Gut, dass direkt von deiner Metrostation die Metro an den Stadtrand, Lido di Ostia, durchfährt. Du verbringst also die Septembertage unter römischer Sonne am Strand oder auf Balkonen von Erasmus-WGs. Wenn die Sonne untergegangen ist, bleibt es noch lange warm in den Straßen also bleiben die Eisläden auch noch eine Weile auf. Hier in Süd-Rom kann man sich bis 2 Uhr nachts noch Gelato holen. Mit flüssiger Schokolade in der Waffel. Und Sahne.

Die Septembertage lassen sich aushalten in Rom. Und Süd-Rom oder besonders der Stadtteil Ostiense fühlt sich ziemlich schnell nach zuhause an. Zwar sind die großen Neubaublöcke nicht wirklich idyllisches Italien wie man sich es vorstellt und auch die Motorräder, die die 8 spurige Via Cristoforo Colombo Richtung Süden rasen, sind immer präsent. Aber Ostiense fühlt sich normal an: Das fällt an den günstigeren Preisen auf, an den fehlenden Tourismusmassen und an der Art von Geschäften, an denen man vorbeiläuft: Die Rom-Artikel-Läden findest du hier nicht, stattdessen viele Autowerkstätten, mit Mechaniker*innen, die im Sonnenschein rauchend an Autos schrauben und Stände, die frisches Obst und Gemüse teilweise mitten auf dem Gehweg aufbauen. Und was mir und meinen (frisch kennengelernten) Freund*innen am besten gefällt: Kellner*innen sprechen nur Italienisch mit einem und wechseln nicht, wie sie das im Zentrum oft tuen, direkt ins Englische, wenn sie merken, dass man nicht Muttersprachler*in ist. 

Der erste Monat geht schnell vorüber, Zeit fliegt. Deine Social Media-Algorithmen haben auf Italienisch umgeswitcht, weil jetzt klar ist, dass du nicht nur für einen Urlaub hier bist. 

Wie, fragst du dich, mache ich das meiste aus meinem Erasmus, was möchte ich erleben?

  • Laufe durch die Stadt bei Nacht. Verpasse mit deinen Freund*innen den letzten Bus, lauft an allen Sehenswürdigkeiten um 3 Uhr nachts vorbei, während ihr versucht, herauszufinden, wie ihr jetzt nach Hause kommt.
  • Erlebe die Stadt nicht nur als Tourist*in: Wann sind Flohmärkte? Wo gehen Menschen, die hier leben, etwas trinken? Wo spielt man hier am besten Basketball? Und welche Restaurants kann man sich sparen?
  • Bereise das Land so viel es geht.
  • Schau dir ein Sportevent live an, auch wenn dich die Sportart nicht besonders interessiert, einfach für das Erlebnis.
  • Obvious one, aber: Beleg nur die einfachsten Module, möglichst ohne Anwesenheitspflicht.
  • Geh‘ zu Demos. Was beschäftigt die Menschen in dem Land?
  • Feier‘ so viele Feiertage wie möglich mit. Ja, fahr ruhig für Weihnachten nach Hause, aber komm für Silvester wieder!
  • Fass dein Erasmus in einer Präsentation für deine Freund*innen zuhause zusammen.

Während du im September noch durch die Hitze von Nasoni zu Nasoni (die öffentlichen Trinkwasserbrunnen Roms) gelaufen bist, fällt die Temperatur Mitte Oktober innerhalb von einer Woche von 30 auf 20 Grad: Der Herbst ist da. Und eigentlich auch der Winter, kälter wird’s nicht mehr wirklich. 

Du hast dich eingelebt. Trotzdem gibt es 

unangenehme Sachen, die im Erasmus (mehr als einmal) passieren werden: 

  • Die letzte nicht-deutsprachige Person hat das Gespräch vor einer Weile verlassen und ihr bemerkt, dass ihr die letzten 10 Minuten in einer deutschen Gruppe Englisch gesprochen habt.
  • Du machst schon Erasmus und der halbe Freundeskreis besteht trotzdem aus Marburger*innen.
  • Andere Deutsche, die denken, Italien verbessern zu müssen.
  • Wenn du über Weihnachten zuhause in Deutschland bist und nach dem Bestellen trotzdem „Grazie“ sagst.
  • Du wirst Sachen aus der Kultur falsch machen, und als Tourist*in erkannt werden. In Italien gibt es viele Essensregeln, z. B. trinken echte Römer*innen keinen Cappuccino mehr nach 12 Uhr mittags.
  • Du fühlst dich etwas zu selbstbewusst und erklärst Tourist*innen den Weg, nur um kurz danach zu merken, dass es die falsche Richtung war.
  • Erasmus-Partys. Wenn der DJ so schlecht ist, dass zwischen den Liedern einfach Pausen sind.

Als dann die Uni anfängt, hättest du fast vergessen, dass du eigentlich zum Studieren hier bist, denn es gibt noch so viele Partys zu feiern, Museen zu besuchen und Pizza zu essen. In Rom muss man eben draußen sein, das Leben genießen. La dolce far niente: Die Süße des Nichtstuens. Aber es gibt auch 

Dinge von denen du nach 4 Monaten immer noch genervt sein wirst, obwohl du wirklich versucht hast, es dolce far niente anzugehen:

  • Die Bus-Situation in Rom. Es wird mehr als einmal vorkommen, dass du über 30 Minuten warten musst bis dann vielleicht, mit Glück, ein Bus auftaucht. (Aber der alte Mann neben dir, der schon genauso lange wartet wie du, schlägt einfach sein Kreuzworträtsel auf und scheint gar nicht gestresst zu sein. Tief durchatmen.)
  • Die schlechte Koordination der Uni für Erasmus-Studierende. Eigentlich interessiert es niemanden so richtig, was du machst, was meistens positiv ist, manchmal, wenn man nicht weiß, wie das neue Unisystem funktioniert und man nur ein paar Basic Informationen haben will, aber auch etwas Schlechtes sein kann.
  • Vermietende ziehen Erasmus-Studierende ab. Man liest jede Woche wieder in einem Erasmus-Chat eine Warnung vor einer Person, die an Erasmus-Studis vermietet, und keine Kaution zurückzahlt oder Mietende ohne Grund auf die Straße setzt.

Aber dann schlägt einer deiner neuen Freunde beim abendlichen Aperol vor, einen Roadtrip zu machen, ihr mietet euch ein Auto (was teilweise unter 5 € pro Tag kostet) und fahrt durch Apulien. Du findest heraus: November ist gar nicht so kacke, unter italienischer Sonne und mit Pasta und Tiramisu. 

Dinge die du während deinem Erasmus googlen wirst:

  • Wann wird mir endlich mein Erasmus-Geld ausgezahlt? (Anfang November kam‘s dann bei mir an.)
  • Was ist das Minimum an ECTS das ich bestehen muss, um die Erasmusförderung zu erhalten? (Es gibt keine endgültige Grenzen aber unter 18 ist nicht empfohlen, sonst muss man sich auf Diskussionen einlassen und hoffen.)
  • Kann ich meinen Aufenthalt verlängern? (In der Regel schon.)
  • Wieviele Tage hintereinander kann ich nur Pizza oder Pasta essen? (Da gehen noch paar.)

Du kennst dich mittlerweile aus in der Stadt, weißt wo du am liebsten essen, trinken und feiern gehst und du weißt jetzt auch, was du noch sehen willst, und die verbleibende Zeit fühlt sich schwindend kurz an. Besonders weil, turns out, du studierst ja eigentlich auch noch und dafür stehen jetzt Midterms an. Aber keine Sorge die schreiben sich auch noch gut, nachdem du in Apulien aufwachst, on the road bei McDonalds frühstückst und 30 Minuten vor dem Examen mit dem Auto in Rom einrollst. 

Dann wird abends zu sarà perche ti amo auf Piazzas getanzt. November in Rom ist schneller vorbei als November in Deutschland.

Im Dezember ist die Stadt mit 1000 Weihnachtslichter geschmückt, und obwohl ihr alle schneegewohnte Erasmusstudierende seid, macht ihr euch die Vorweihnachtszeit zusammen bei 20 Grad und Sonne weihnachtlich: Glühwein duftet, es wird gewichtelt und dann auch schon der Nachtzug in den Norden genommen. Über Weihnachten fahren die meisten in die Heimat. 

Nach den Feiertagen wieder in Rom zu leben, wird anders sein. Einige Freund*innen werden nicht mehr wiederkommen, weil die Uni in ihrem Land schon weitergeht. Und es wird deutlich, wie wenig verbleibende Zeit noch ist, bis auch deine sechs Monate in Rom vorbei sind. Klausuren stehen an. Es ist ein bisschen melancholisch: Du hast über so viele Monate Freundschaften aufgebaut mit Menschen, die du bald von einem Tag auf den anderen für längere Zeit nicht mehr sehen wirst. Du hast dich an ein neues Leben angepasst und es lieben gelernt, trotz all der Busse, die nie kamen, und jetzt lässt du es einfach hinter dir. Aber es ist auch schön, denn schau dich um: Es ist Januar und du musst nicht mal eine Jacke tragen, du sitzt in der Sonne mit deinen Freund*innen und trinkst Cappuccino für 1,20 € und lachst über französische Sprichwörter, die sich definitiv nicht ins Englische übersetzen lassen. Nimm dir einen Strandtag Pause (ja, im Januar), iss Pizza (davon hat man auch nach fünf Monaten noch nicht genug, versprochen) und genieß die letzte Zeit. 

Dinge, über die du froh sein wirst am Ende von deinem Erasmus-Aufenthalt:

  • Mit deinen Erasmus-Freund*innen zusammen zurück nach Marburg fahren.
  • Dass du über Weihnachten schonmal ein paar Klamotten nachhause gebracht hast.
  • Dass es schon Pläne gibt, wann ihr das nächste Mal alle in Rom zusammenkommt.
  • Deine Freund*innen aus Marburg wiedertreffen, die zeitgleich Erasmus gemacht haben und Erfahrungen teilen können.
  • Bald wieder Club Mate trinken zu können.

Alle bisher erschienen Teile der Marburg auf Standby-Reihe findet ihr hier.

(Lektoriert von hab und jok.)

ist 2002 in Berlin geboren und studiert Soziologie im Bachelor. Seit Januar 2023 beim Philipp Magazin in der Redaktion aktiv

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