Wie es war, die Balkanroute zu bereisen

Wie es war, die Balkanroute zu bereisen

Vor zwei Jahren reiste unsere Autorin in den Osten Europas. Zum Vergnüngen. Dass gerade Tausende Geflüchtete auf der Balkanroute unterwegs waren, realisierte sie erst, als sie nach Budapest kam.

»Wann hast du das letzte Mal geweint, als du die Nachrichten gesehen hast«, fragte mich ein Text. Er heißt »Es geht um uns« und stand in der NEON. Erst las ich ihn, weil das so zum Journalist:innendasein dazugehört, Texte zu lesen, die mit der eigenen Zielgruppe zu tun haben. Ich las ihn im Endeffekt nicht deswegen zu Ende. Ich las ihn, weil er mich ins Herz traf. Texte, die einen ins Herz treffen, sind gute Texte. Ihr kennt sie sicher. Dieser hier war so besonders, weil er wenig erzählte, vielmehr fragte. 110 Fragen um genau zu sein. Frage Nr. 66, die Frage danach, wann ich das letzte mal geweint habe, als ich die Nachrichten sah, war die, die mich ins Herz traf. Es war die, die wirklich um mich ging.

Letztes Jahr. September 2015. Ich war auf Osteuropa-Tour. Macht man ja so, wenn man ein guter Millenial ist. Man soll reisen gehen und die Welt sehen. Für manche ist die Welt Australien. Wir entschieden uns nicht für Australien. Wir wollten nach Osteuropa. Als Kinder eines Landes, dessen Bestehen in der Annäherung aus Ost und West gründet, waren wir neugierig. Das Andere sehen und so. Man ist ja reflektiert.

Nachdem ich auf einem Festival an der polnischen Ostsee tanzte, bis die Sonne unter Beifall verabschiedet wurde, machten wir uns auf den Weg nach Warschau. Dort trafen wir Judith. Wir wohnten in einer AirBnB-Wohnung. Das war schön. Altbau, Parkett, weiße Möbel, diese Dinge. In Warschau sahen wir nicht viel, ich erinnere mich an eine Palme auf der Straße und die künstlichste Altstadt der Welt. Immerhin brachte sie ein paar Instagram-Likes.

Die Katze in Krakau war süß

Polski-Bus brachte uns nach Krakau. Zu einem Couchsurfer, der lieber im 17. Jahrhundert gelebt hätte, wie er uns eines Nachts volltrunken nach zu viel Tyskie-Bier erzählte. Wir blieben zwei Nächte. Seine Katze war süß.

Nächster Halt sollte dann eigentlich irgendeine Stadt in der Slowakei sein, von der ich mittlerweile ihren Namen vergessen habe. Geografisch ergab unsere Route großen Sinn. Wie mit einem Lineal hätte man sie von Norden nach Süden zeichnen können. Von Krakau sollte es doch kein Problem sein, direkt nach Bukarest zu fahren. Dorthin mussten wir, weil Leo dann zurückfliegen würde. Sie hatte nur zwei Wochen Zeit. Verpflichtungen, Termine, diese Dinge. Dass es nicht so einfach war von Krakau nach Bukarest zu gelangen, merkten wir erst, als wir schon in Polen waren. Ein Stop in Budapest war bei zu viel Weißwein in der Marburger Altbauwohnung, in der wir die Reise planten, ausgeschlossen worden. »Budapest? Da waren wir schon«, sagten Leo und Judith.

»Budapest? Da waren wir schon«

Nun mussten wir trotzdem dahin. Busverbindungen gab es schon längst nicht mehr, Flüge waren zu unpraktisch. So trampten wir eben. Ich hasste Trampen in diesem Jahr. Sonst vielleicht auch. Drei Frauen und drei riesige Rucksäcke. Das kann doch nicht gut gehen und schämte mich heimlich für diesen Gedanken. Nach Budapest kamen wir zwar, nicht aber ohne eine Nacht auf einer Kuhwiese hinter einer Tankstelle an der polnisch-slowakischen Grenze zu verbringen. Der Mond war riesig und die Ruhe laut, so wie es nur der Natur eigen ist. Am nächsten Tag nahmen uns zwei polnische Arbeiter auf ihrem dem Weg nach Bratislava mit. Unsere Rucksäcke packten wir zwischen große Kartoffelsäcke. Während der Fahrt verstanden wir nichts und uns trotzdem gut.

Nach einem weiteren Zwischenstop in Bratislava und kamen wir mit zu viel Restpromille am Budapester Bahnhof an. Nüchtern wurden wir spätestens als wir diesen erreichten. Kaum aus der U-Bahn-Station herausgetreten, sahen wir hunderte Menschen, die in kleinen Gruppen auf Isomatten ausharrten. Unter ihnen Kinder, Schwangere, Alte. Wir gingen hinaus auf den Vorplatz. Dort saßen weitere hunderte Menschen, manche geschützt hinter Zeltmuscheln, alle auf dem Boden. Die ungarische Sonne war heiß. Ein Kind sah ich, wie es sein Geschwister in einem Kinderwagen umherschob. Nach vorne und zurück. Immer wieder nach vorne und zurück. Auf einer Wand war mit Kreide „UN“ geschrieben. Daneben ein Ist-Gleich-Zeichen. Dahinter ein Hakenkreuz.

Im Bahnhof selbst sahen wir weitere hunderte Menschen in einer langen Schlange an den „internationalen“ Ticketschaltern stehen. An den Ticketschaltern, an die wir eigentlich auch mussten. In sechs Stunden sollte unser Zug nach Bukarest gehen. In die andere Richtung. Wir weinten, als wir daran dachten. Ich sah und spürte Hilflosigkeit in Leos und Judiths Augen. Spürte sie selber. Das Privileg eine weiße Mitteleuropäerin zu sein, fühlte sich in diesem Moment an wie ein zu großer Mantel, unter dem man fast verschwindet, weil er so schwer ist.

Nachdem wir unsere Rucksäcke in einen Raum abschlossen hatten, in dem Frauen ihre Kinder wickelten, rief ich eine ungarische Freundin an, die ich noch aus Erasmus-Zeiten in Frankreich kannte. Sie erzählte mir, dass wir auch an einem anderen Bahnhof in Budapest internationale Tickets bekommen könnten. Also fuhren wir dort hin. Unsicher zwar, was uns dort erwarten würde. Anders als am Bahnhof Budapest-Keleti waren dort jedoch nur vielleicht zwanzig Reisende zu sehen. Darunter zwar auch jene, die auch in Budapest-Kelit hätten stehen können. Aber nur fünf an der Zahl. Eine ungarische Frau half ihnen ein Ticket nach Berlin zu erstehen.

„Danke, dass ihr die Flüchtlinge aufnehmt“

Am Schalter nebenan orderten wir unseres nach Bukarest. Als die Frau hörte, dass wir Deutsch sprachen, wandte sie sich zu uns. In fast perfektem Deutsch sagte sie: „Danke, dass ihr die Flüchtlinge aufnehmt“ Irritiert von dieser Aussage, sagten wir erstmal nichts. Da schob sie schon hinterher »Ja, auch wenn ihr sie nicht haben wollt, aber wirklich, danke.« Ich brachte nur ein »Ähhh, ich verstehe nicht« heraus. »Na, Angela Merkel nimmt doch nun alle Flüchtlinge auf, das ist ein bisschen wie damals, 89, ich erinnere mich. Da war ich in Hannover, als Ungarn die Grenze aufmachte, da gratulierte mir übrigens auch ein Deutscher« Die Frau erzählte noch ein bisschen weiter, ich hörte aber fast gar nicht mehr hin. Da verglich jemand eine Situation mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Was war denn nur passiert? Da waren so viele Bilder, aber kein Kontext. Der erschloss sich erst, als wir zwei Stunden lang im W-LAN einer Kaffee-Franchise-Kette hangen. Nachrichten. Intravenös.

Ein paar Wochen später, ich hatte mittlerweile paketeweise Auslandsinternet gebucht und war wieder informiert, fragten wir am Bahnhof in Belgrad, ob mit Beeinträchtigungen der Reise nach Wien zu rechen sei. Die Frau am Schalter musterte uns. Mit Blick auf unsere Personalausweise sagte sie, fast lachend: »Oh please, not for you« Wir schluckten und orderten unsere Sitzplatzreservierung. Am Bahnsteig ankommen, sahen wir an den Ausläufern des Belgrader Bahnhofes ein paar Zelte, über denen es rauchte und vor denen Menschen kauerten. Doch unser Zug war schon da und wir mussten weiter. Judiths Freund Nils wartete in Wien, wir wollten feiern gehen. In die grelle Forelle.

Wir zeigten unser Ticket vor. Auf unserem Ticket stand »Wagen Nr. 44«. Der Schaffner zeigte auf Wagen Nr. 43. Energisch zeigte ich auf unser Ticket, auf dem die 44, wenngleich auch in kleinen Lettern, deutlich zu sehen war. Wieder zeigte der Schaffner auf Wagen Nr. 43. Und schob hinterher »Please go to 43, in 44 there are syrian people«. Seine Stimmte war monoton, aber bestimmt. Wir entgegnetem den nichts und folgten in Wagen 43. Dort fanden wir ein Abteil, nur für uns. Judith und ich schauten uns an. Wir schwiegen. Mein Kopf stellte Vergleiche mit den 30er Jahren an. Ich fühlte mich schlecht. Und überhaupt: Durfte ich das überhaupt denken? Und wenn nicht, warum durfte ich es nicht?

Frage Nr. 66, die Frage danach, wann ich das letzte mal geweint habe, als ich die Nachrichten sah, trifft mich ins Herz, weil ich an diese Tage denke, an denen ich die Auswirkungen einer politischen Entscheidung und eines brutalen Bürgerkrieges, mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Sie trifft mich ins Herz, weil ich die restlichen drei Wochen unserer Reise keine Bilder der Balkanroute sehen konnte, ohne dass mir Tränen die Wange herunterliefen. 2016 war auch für mich persönlich ein bisschen zu viel Geschichtsbuch.

Heute ist die Balkanroute geschlossen, die Bilder sind von dort gewichen, ebenso wie meine Tränen angesichts der Nachrichten. Gehen wir also weiter im Text. Frage 67 lautet: »Schaffen wir das?«

FOTO: Katharina Meyer zu Eppendorf

PHILIPP-Gründerin und Chefredakteurin von 2014 - 2017.

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