#sechs. klanggang. ein trugschluss-Ausflug

#sechs. klanggang. ein trugschluss-Ausflug

Wikipedia sagt, „ein Trugschluss ist in der Harmonielehre eine Kadenz, in der die Dominante nicht erwartungsgemäß in die Tonika, sondern „betrügend“ in einen Tonikavertreter mündet“. Soviel also zu dem Namen, der offensichtlich mit den traditionellen Hörerwartungen spielt. Ähnlich aus der Reihe tanzen auch die Konzerte, welche das gleichnamige ehrenamtliche Projekt aus Marburg nun schon seit Oktober 2013 regelmäßig veranstaltet. Dass es sich bei den Mitgliedern fast ausschließlich um Studierende der Musikwissenschaft, bzw. von „Kunst, Musik und Medien“ handelt, die sich unabhängig vom universitären Kontext mit neuer Musik beschäftigen, dürfte niemanden überraschen.

Da die Nische der experimentellen Musik in Marburg noch nicht gefüllt, oder gar überhaupt noch nicht existiert hat, sahen die Gründungsmitglieder Markus Treier, Juliane Busse, Steven Böhringer und Julian Kämper eine Möglichkeit, den musikalischen Horizont der Stadt noch ein bisschen zu erweitern. Inzwischen, nach knapp 2 Jahren, besteht das Kollektiv aus acht Personen, die alle in ihrer Freizeit für das Gelingen der Konzerte und das Weiterleben von trugschluss sorgen. So zum Beispiel auch Johanna Wenzel, offiziell für Kommunikation und Marketing zuständig. Sie berichtet von dem anfänglichen Wunsch, „ungewöhnliche Klänge an außergewöhnliche Orte“ zu bringen und die Erfahrung, die man mit den Aufführungen von neuer Musik in Marburg macht.

 „Experimentelle Musik als Kommentar
zum Alltag, zur Oberstadt und zu uns allen.“

Achtzig bis hundert Leute verzeichnete trugschluss im Schnitt bei den vergangenen Veranstaltungen – von ihnen chronologisch nummeriert als #eins bis #fünf – und auch die Tour der „Internationale Ensemble Modern Akademie“ (#sechs. klanggang) am Samstag, den 30.05. vermochte es, die Räume gut zu füllen. „Drei Viertel des Publikums“, sagt Johanna, „sind Leute die man kennt“ – also vorwiegend Studierende. Wohl kaum einer Person im Publikum ist im Vorfeld bewusst, was ihn oder sie erwartet, sodass auch die Reaktionen auf die Darbietungen von Konzert zu Konzert sehr unterschiedlich ausfallen. Nummer #eins und #vier seien die bisher am zugänglichsten gewesen und so auch diejenigen, mit der besten Resonanz. Bei ersterem mag es daran gelegen haben, dass zusätzlich zu der Musik eine Videoinstallation vorhanden war und der/die Zuschauer*in sich in einer Art ‚Fernsehsituation’ wiederfinden konnte. So meint auch Johanna: „Experimentelle Musik geht wohl besser in Verbindung mit anderen Medien“. Das „unbewusste Gesamtkunstfeeling“ entstand auch bei der Performance innerhalb des Baustellen-Kunstmuseums im Rahmen von #vier. Dort ergänzte sich der interaktive Charakter einer durch verschiedene Räume gehenden Tour mit Irritationsmomenten, wie zum Beispiel einem Squash-spielenden Künstler.

Raum für Beteiligung war ebenso vorhanden bei der Klanggang-Führung am 30.05., die sich unter dem Motto: „Experimentelle Musik als Kommentar zum Alltag, zur Oberstadt und zu uns allen.“ durch verschiedene Konzertstationen in Marburgs Oberstadt zog. Statt dem schönen Wetter zu frönen, zog man sich nacheinander in Unix-Bar, Gewölbekeller, Kirche und Ladenlokal Kratz zurück und formierte sich an allen Orten in Zuschauerposition um die Musizierenden herum. Bevor jedoch auch nur ein Ton zu hören war, eröffnete der Marburger Dozent und Komponist Hannes Seidl jeweils die Performances mit Mini-Vorträgen in Form von lokalen und internationalen Geschichts-Snippets, bezogen auf Musik und Zeitgeschehen. Für die ganz Fleißigen bot das Programmheft die Möglichkeit, eigene „#gedankenfetzen“ auf leeren Seiten zu notieren. Johanna betont, dass der/die trugschluss-Besucher*in „an keiner Stelle mit der ungewohnten Musik alleine gelassen wird“. Die Vermittlung ist Teil jedes Konzerts und reicht von Vorträgen bis zu kreativen Ideen, wie beispielsweise der Bierdeckel-Aktion, bei der anonym Fragen und Kommentare des Publikums über die Pappdeckel an die Komponist*innen weitergereicht wurden. „Im besten Falle entsteht eine kommunikative Situation“, bei der man sich über das Gesehene und Gehörte mit Nachbar*in oder Komponist*in austauscht.

Gequälte Instrumente oder gequälte Ohren?

Tourstart an besagtem Samstag war das Eröffnungskonzert in der Unixbar, bestritten von einem aktuellen Stück aus dem Jahr 2014 des Komponisten Ricardo Eizirik. Neben klassischen Instrumenten wie Geige, Oboe, Bratsche und Bassklarinette, fanden Becher, Klingel und Fingerhüte einen Einsatz als Percussions-Instrumente und ermöglichten einen verzerrten, klopfenden Klang. Ein vibrierendes Handy und Telefongeräusche erschienen nur bei der ersten Anwendung als Störgeräusche, dann akzeptierte man sie als Teil des modernen Gesamtkonzeptes. Stück Nummer zwei (Brian Ferneyhough – Mnemnosyne, 1986) unterschied sich vor allem in seiner Stimmung von dem zuvor gehörten. War dieses noch aufgeweckt und elektrisierend, fand man sich nun in einem gespenstisch, träumerischen Modus wieder. Eine einzelne Altquerflöte spielte Noten von einem Bildschirm, der auf einem Stuhl montiert war. Die rasende Abschlussnummer eines Cellisten (Michael Gordon – Industry, 1992) erinnerte wiederum an ein Flugzeug beim Start, so elektrisch verzerrt war der Ton, der durch ein gleichzeitiges Streichen und Zupfen der Saiten hervorgebracht wurde. Empfindlich für „gequälte“ Instrumente sollte man bei dieser Performance auf jeden Fall nicht sein.

Nach dieser ersten Aufführung zog man, wenn man wollte, als Teil der Karawane in Richtung Universitätskirche, vor der bereits ein Getränkewagen die Gäste zu versorgen suchte. Durch diese und einen weiteren Geschichts-/Musikvortrag von Hannes Seidl gestärkt, betrat man das gotische Ambiente von Station Nummer zwei. Die in der Kirche dargebotenen Stücke beinhalteten offensichtlich mehr Kommunikation und Interaktion zwischen den einzelnen Musiker*innen, es entstanden „Gesprächssituationen“ mit performativem Charakter. Besonders Match (1966-70) von Mauricio Kagel, einem Komponisten mit Bezügen zum Musiktheater, wurde als ein Spiel im Spiel wahrgenommen. Die bildliche Ebene überlagerte das klangliche Experiment und zeigte neue Aspekte auf, die bei einer Konzertsituation eine Rolle spielen. Der Musiker war nicht mehr nur ein Handwerker, der Musik produziert, sondern auch Schauspieler, der dem Publikum ein Stück zugänglich macht.

Eine halbe Stunde nach Konzertbeginn ertönte in der Kirche ein erstes Stöhnen: „Ich find´s voll stressig, denen zuzuhören“. Und der Kommentar einer Nachbarin erfasste die allgemeine Gemütslage: „Ich finde das ist viel zu viel.“ Zu viel für die auf ‚verträgliche’ Musik getrimmten Ohren? Das Konzertgang-Konzept von #sechs stellte es dem Publikum frei, den Raum zu verlassen oder sich anderweitig zu beschäftigen. Trotzdem verharrte jede*r auf seinem/ihrem Platz und ließ es „über sich ergehen“. Vielleicht wollte man sich auch einfach nicht eingestehen, dass der eigene musikalische Horizont doch sehr eingeschränkt ist und sich in einer konstanten Wohlfühlzone befindet, die nur ungern mit Neuer Musik konfrontiert wird. Das Konzert jedenfalls ging unbeirrt weiter – mitsamt den gestressten Personen. 

Station drei und vier in Gewölbekeller und Kratz zogen sich in diesem Sinne auch schon merklich länger in die Breite, schließlich war man – wenn man die Gruppe seit dem ersten Konzert begleitet hatte – seit fast drei Stunden unterwegs. Anschließend an die Keller-Performance von drei verschiedenen akustischen Stücken, erklärten sich Schlagzeuger Mervyn Groot, Cellistin Ella Rohwer und die Geschäftsführerin der „Internationale Ensemble Modern Akademie“ Christiane Engelbrecht zu einem Interview bereit. Mervyn und Ella sind Studierende der Zeitgenössischen Musik an der IEMA. Der Masterstudiengang in Frankfurt umfasst ein Jahr, in welchem intensiv praktisch gearbeitet und gespielt wird, um den Alltag des normalen Konzertbetriebs zu vermitteln. 160 Projekt- und Probentage und über 30 Konzerte im In- und Ausland absolvieren die 15 Stipendiat*innen aus aller Welt – Ella ist in diesem Jahrgang die einzige Deutsche. Die Initiator*innen von trugschluss wünschten sich eine Kooperation mit dem Ensemble. „Die wollen einfach ein gutes Konzert haben“, lacht Christiane. Der Spaziergang durch verschiedene Konzertorte war die Grundidee des Programms, das dann individuell für diesen Anlass gestaltet wurde. Die Stücke waren den Ortschaften in Marburg passend und pragmatisch zugeordnet, sodass die großen Schlagzeug-Arrangements in der Kirche und die elektronisch verstärkten im Club zu finden waren.

Experimente mit Musik

Für Mervyn und Ella ist auch die teilweise enge Publikumssituation kein Problem. Sie finden es sogar schön, wenn die Besucher*innen durch räumlich enge Verhältnisse, wie denen im Gewölbekeller, an die Künstler*innen heranrücken müssen und so auch die Hemmschwelle der Kommunikation sinkt. „Dann weißt du, dass sie alles genau sehen können. Wenn du auf der Bühne bist, musst du alles übertreiben“, meint Mervyn. Vor allem die Noten sind immer wieder ein interessanter Gesprächsstoff. Ella erklärt, wie zum Beispiel die eigens, fast pedantisch angefertigte Notation von Helmut Lachemann für das Cello zu verstehen ist. Statt gewöhnlicher Notenlinien findet sich dort eine grafische Abbildung des Cello-Steges und Zickzack-Linien, welche die Bewegung des Bogens auf diesem verdeutlichen sollen. Ella selbst hatte schon mit dem Komponisten an einem Stück zusammengearbeitet und weiß zu berichten, wie detailgetreu er den Musiker*innen sein Stück erklärt.

Um einiges freier ist im Vergleich dazu die Performance von dem in der Kirche gespielten Match für zwei Celli und ein Schlagzeug gedacht, denn „da stehen Sachen drin, die gehen gar nicht“, so Ella im Bezug auf die Funktionsfähigkeit der Tempoangaben. Kagel komponierte das Stück mit einer Idee von einer bildlichen Wirkung und weniger von der musikalischen im Kopf. Durch die fast unmöglich ausführbaren Anweisungen, sind die Musiker*innen gezwungen, zu übertreiben, was einen virtuosen Effekt zur Folge hat. „Es ist schön, wenn Leute durch etwas aufgeweckt werden, wenn etwas passiert das man nicht erwartet“ meint Ella. Die Kommunikation und Zusammenarbeit von Komponist*innen und Musiker*innen sehen Christiane, Ella und Mervyn als einen großen Vorteil für die beidseitige Arbeit an den Stücken. Dabei ist für Mervyn die zeitgenössische Musik vor allem eine Herausforderung, etwas Neues zu entdecken und Grenzen auszutesten; Ella schätzt auch die Freiheiten: „Experimentelle Musik ist eben tatsächlich experimentieren“. Ein Experiment, das auch in Marburg glückt? Johannas Fazit lautet: „funktionieren tut’s“.

HINGEHÖRT Ein siebtes Konzert (#sieben. schlaglicht) ist für den 23.06. geplant. Zu sehen sein wird ein Schlagzeug-Quartett. Nähere Informationen dazu findet ihr auf der trugschluss-Website und auf Facebook.

FOTOS: Paul Schmidt

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