Sneak-Review #241: Die Nachbarn von oben

Sneak-Review #241: Die Nachbarn von oben

Die Wohnung weist eine fast schon bürgerliche Fülle auf. Neben dem Flügel, der einen prominenten Platz im Wohnzimmer einnimmt – mittig, aber doch in der Nähe eines großen Fensters, dort, wo ihn die meisten von Ikea-Werbungen sensibilisierten Mittelschichtler:innen platzieren würden – bedeckt ein kleiner Teppich eine zuvor entblößte Stelle des Fußbodens. Anna (Ursina Lardi) hat ihn, die konsternierte Reaktion ihres griesgrämigen Ehemanns Thomas (Roeland Wiesnekker) erwartend, gekauft, um der Wohnung vor dem ersten Besuch ihrer neuen Nachbarn, ein anderes Raumgefühl zu verleihen. Teppichen wird bekanntlich eine große Fähigkeit der Raumgefühlsänderung zugeschrieben. Sie verdecken eine möglicherweise schambehaftete, hässliche oder einfach uninteressante Stelle, um dann jedoch durch ihre Ornamentierung gleichzeitig eine größere Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen. Thomas, der nach einem unerfüllten Tag als Klavierlehrer nach Hause kommt, ist weder Freund dieser Aufmerksamkeit noch möchte er in ein solch freundschaftliches Verhältnis zu seinen Nachbarn treten. Er schließt sich der von Anna bereits ausgesprochenen Einladung nur an, weil er darin die Möglichkeit sieht, jene Nachbarn auf ihr äußerst mitteilungsbedürftiges Sexualleben aufmerksam zu machen. Bevor der dadurch ausbrechende Streit in Annas resignierter Niederlage gegenüber den endlos pedantischen Vorwürfen ihres Mannes sein vorübergehendes Ende finden kann, klingelt es. Die Nachbarn, Lisa (Sarah Spale) und Salvi (Maximilian Simonischeck), sind da. Sie mögen den Teppich.   

Trauriges Bürgerspiel

Die Nachbarn von oben ist eine schweizer Komödie der oberflächlichen Gegensätze. Die Figuren besitzen gerade genug Eigenschaften, um darüber diskutieren zu können. Thomas ist eine pessimistische, mit ihrem Leben und ihrer Beziehung unzufriedene, aber darin festgefahrene Schaufensterpuppe, die ihren Frust nur durch ironische Kommentare oder Distanzeinnahme verarbeiten kann. Anna begegnet Veränderungen offener, kann Thomas aber nicht davon überzeugen, sich mitzuverändern. Beide sind ineinander verhakt, ohne es zugeben zu können, denn so kann doch ein ‚gelungenes‘ Leben in einer heteronormativen Welt aussehen, oder? Nach der obligatorischen Hochzeit und der gemeinsamen Wohnung folgt noch die Abstimmung der jeweiligen Arbeitszeiten. Routine und zunehmendes Desinteresse an der anderen Person, die immer länger werdenden Pausen einer totgeschwiegenen Beziehung in den vier Wänden der Konventionalität, ein neuer Teppich. Dagegen das körperlich erfüllte Beisammensein und die (sexuelle) Offenheit von Lisa und Salvi und schon entsteht in dieser einfachen Konstruktion von Gegenüberstellungen der Antrieb des Films. Solche Strukturen können funktionieren, wenn sie sich ihrer eigenen Gemachtheit bewusst sind oder diese effektiv verdecken oder erweitern können. Die Nachbarn von oben gelingt nichts davon. Die Figuren agieren als bloße Meinungsbesitzerinnen, die gegeneinander ausgespielt werden. Durch die Oberflächlichkeit ihrer Identitäten, die sich nur im Austausch von Meinungen äußern, reden sie viel, ohne wirklich etwas zu erzählen.

Die Nachbarn von oben zieht einen Großteil seiner erhofft humoristischen und subversiven Wirkung aus der bürgerlichen Verklemmtheit von Thomas und Anna, die gegen das offene Liebeskonzept von Salvi und Lisa ausgespielt wird. Die Konventionalität der Beziehung von Thomas und Anna, die den Mittelpunkt und die Ausgangssituation des Films bildet, beschränkt ihn dadurch aber auch in seiner formalen und inhaltlichen Aussagekraft. Damit die, häufig von Thomas eingestreuten, ironischen Bemerkungen über die Sexualvielfalt von Salvi und Lisa funktionieren können, müssen sie zunächst als Abweichung einer vom Film reproduzierten Norm angesehen werden. In diesem Fall: das wohlsituierte, aber frustrierte Kleinbürgertum. Ist diese Verwendung von Humor aber nicht auch gleichzeitig eine Unterhöhlung des eigentlich doch als positiv inszenierten Beziehungsmodells von Lisa und Salvi? Worüber genau möchte der Film lachen, wenn Thomas erneut auf den anscheinend merkwürdigen Akt, mit mehreren Menschen Sex zu haben hinweist, wenn nicht über genau das Modell, dass es, anhand der ansonsten positiven Darstellung des Films, eigentlich als allen anderen gleichberechtigt zu akzeptieren gilt?

Genau diese Freiheit und Offenheit, die der Film letztendlich, wenn nicht zelebrieren, so doch positiv ausstellen möchte, wird auch von der eingenommenen, bürgerlichen Grundhaltung erheblich abgeschwächt. Angesichts der engen, keine Veränderungen zulassenden Perspektive, die von Thomas und Anna hier als verbreitetes Modell repräsentiert wird, ist jede Kleinigkeit eine Freiheit, eine willkommene Abwechslung, Subversion der untersten Etage. In seiner Absicht, die Grenzen und Unzulänglichkeiten einer solchen Beziehung aufzuzeigen, weist der Film nur darauf hin, dass diese Ansicht als Grundhaltung für interessante Geschichten nicht mehr als unhinterfragter Status quo verwendet werden sollte, der wiederholt auseinandergenommen werden muss. Dafür sind die Einsichten, die der dafür an seinen Figuren überraschend desinteressierte Film zutage fördert, zu offensichtlich.   

Kleiner Tod in großer Wohnung

Die Nachbarn von oben präsentiert sich als Fallstudie, als Diskussionstheater. Dementsprechend inszeniert die sowohl im Film- als auch im Theaterbereich erfahrene Regisseurin Sabine Boss den Raum, der ihre Figuren umgibt, leider als flache Kulisse. Gegenstände, Räume sind nur in ihrer Nützlichkeit zu den sie verwendenden und bewohnenden Wesen relevant und nie eigenständig greifbar. Der unablässige Fokus auf die Schauspieler:innen, die schlicht gedrehten Dialoge, die eben jenem Schauspiel Raum geben sollen, lassen den Film eher wie ein aufgezeichnetes Theaterstück wirken, ohne eine eigene visuelle Identität. Thomas und Anna bewegen sich nicht selbstverständlich durch ihre überbeleuchtete Wohnung, sie treten ab, um in einem anderen Zimmer wieder aufzutreten. 

Die Nachbarn von oben versucht zunächst diesen intimen Schauplatzwechsel abwechslungsreich zu inszenieren, verliert aber mit zunehmendem Raumwechsel die Ideen und fällt zurück auf simple, brave Bildkompositionen (Thomas und Anna gehen, nach der Sackgasse eines weiteren Streits, in zwei aneinandergrenzende Zimmer, Lisa möchte zwischen ihnen vermitteln. Natürlich wird Thomas in Einzeleinstellung dann in die eine Bildhälfte gesetzt, Anna in die andere. In Totalen, in denen alle drei zu sehen sind, steht Lisa als Vermittlerin zwischen den beiden.) Die Schauspieler:innen sind dafür zwar überzeugend in ihrem dem Drehbuch folgenden Rhythmus aus ernsten Gesprächen, beiläufigen Enthüllungen und heiteren Entladungsmomenten, besitzen aber, und das mag der Figurenkonstruktion geschuldet sein, nicht die nötige Präsenz, um den Film über seine gesamte Laufzeit zu tragen. Die Nachbarn von oben versucht sich an einem tiefergehenden Gesellschaftsportrait – kondensiert auf vier Figuren und primär eine Wohnung – erstickt aber letztendlich an seiner eigenen Konventionalität.   

Die Nachbarn von oben wurde zu 75% positiv und zu 25% negativ bewertet.

Habt ihr Die Nachbarn von oben schon gesehen? Falls nicht: Habt ihr vor, den Film anzuschauen? Schreibt es uns gerne in die Kommentare!

(Lektoriert von hab und lab.)

ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 23 Jahre alt.

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