„The Working Dead – die Pflege hat sich totgepflegt!“

„The Working Dead – die Pflege hat sich totgepflegt!“

3.000 Menschen trotzten am Freitagnachmittag dem Wetter und gingen für bessere Arbeitsbedingungen im Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) auf die Straße. 

Vor dem Marburger Hauptbahnhof sammelte sich eine Traube aus neongelben Warnwesten und roten ver.diFahnen, Trillerpfeifen und laute Musik sind zu hören, der Eingang zum Bahnhof von Menschen versperrt. Der Anlass: Die Beschäftigten des UKGM befinden sich seit Montag im Streik und für Freitag, den 31. März war eine große Demonstration und Kundgebung angesetzt. 

„Dieser Streik ist unsere letzte Hoffnung“

Gegen 17 Uhr fährt ein Zug ein, er kommt aus Gießen und mit ihm die Kolleg:innen aus dem Gießener Teil des UKGM. Empfangen werden sie mit Jubel und einer zuvor eingeübten La-Ola-Welle. Die Ansammlung wächst immer weiter, bis schließlich etwa 3.000 Menschen ihren Weg zur Kundgebung gefunden haben. Die Kundgebung beginnt zunächst mit einem Applaus und einem Dankeschön für die Kolleg:innen, die durch ihre Arbeit während des Streiks die Notversorgung der Krankenhäuser sicherten. Nach und nach werden Angestellte aus den Kliniken auf die Stufen vor dem Bahnhof gebeten, die als Bühne dienten, um vorbereitete Redebeiträge vorzutragen. Eigentlich brauchen sie nur aus ihrem Arbeitsalltag zu erzählen und schnell wird klar, weshalb gestreikt wird. Eine Pflegerin aus der Pädiatrie (Kinderstation) des UKGM Marburg beginnt ihre Rede mit den Worten: „Es fällt mir schwer zu streiken, lieber würde ich mich um die Kinder kümmern, aber dieser Streik ist unsere letzte Hoffnung“.

Personalmangel in allen Bereichen

Danach berichtet sie von Arbeitstagen, an denen auf drei Pfleger:innen 28 teils schwer erkrankte Kinder kommen, an denen keine Zeit bleibt, besorgten Eltern ihre Fragen zu beantworten und an denen einem „stets die Angst, etwas zu vergessen im Nacken sitzt“. Die dünne Personalbesetzung mache eine Pflege, die die psychische und physische Gesundheit der kranken Kinder gewährleistet, unmöglich. Es folgen weitere Redebeiträge von Mitarbeiter:innen aus verschiedenen Stationen, die Kernaussagen lassen sich immer auf einen gemeinsamen Nenner bringen: zu wenig Personal, das vorhandene Personal dementsprechend extrem überlastet. Hauptsächlich sprechen Pfleger:innen, aber auch Angestellte aus den Laboren und ein Arzt melden sich zu Wort. Dieser Arzt, ein Oberarzt aus der Notaufnahme am UKGM Marburg, berichtet von stundenlangen Wartezeiten unter teils menschenunwürdigen Umständen, die Patient:innen in der Notaufnahme zu erdulden hätten. Die Ursache: „Meldet sich ein Kollege kurzfristig krank, so ist eine Notfallversorgung nach internationalen Richtlinien nicht mehr möglich.“ Ein weiterer Kollege sagt, er könne alle Bereiche und Stationen eines Krankenhauses aufzählen, alle seien unterbesetzt. Damit bringt er die Problematik auf den Punkt. 

Das Ultimatum 

Eben diese Problematik beschäftigt Pfleger:innen schon seit Jahren, aber die Corona-Jahre und vor allem der letzte Winter haben „das Fass zum Überlaufen gebracht“. Deshalb haben die Mitarbeitenden am UKGM ihrem Arbeitgeber und der Politik am 14. Dezember vergangenen Jahres ein Ultimatum gestellt. Sie haben den Verantwortlichen 100 Tage Zeit gegeben, Rahmenbedingungen und einen Tarifvertrag zu schaffen, die sowohl eine sichere Beschäftigung als auch eine Entlastung für alle Mitarbeitenden gewährleisten (der sogenannte Tarifvertrag Entlastung oder TVE) , sollte dies nicht geschehen drohte ver.di mit Streiks. Diese Frist ist am Freitag, den 24. März verstrichen, ohne dass irgendwelche Forderungen erfüllt wurden – also wird gestreikt. 

Wer trägt die Verantwortung?

Es wird berichtet, wie der Arbeitgeber versucht hat, dem Personal ins Gewissen zu reden und es so vom Streik abzubringen. Es wurde an das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Patient:innen, aber vor allem gegenüber den Kolleg:innen appelliert, der Streik sei unverantwortlich und unkollegial. Viele der Streikenden sehen den Streik jedoch als letzte Möglichkeit vor der Kündigung, um irgendetwas an den bestehenden Arbeitsumständen zu verbessern und Druck auf den Arbeitgeber und die Politik auszuüben. Den meisten ist es keineswegs leichtgefallen, ihre Arbeit niederzulegen, sie haben schlicht keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Der Arzt aus der Notaufnahme entgegnet den Appellen des Arbeitgebers: „Es ist nicht unverantwortlich, das gestreikt wird, sondern es ist unverantwortlich, dass wir hier stehen müssen, um zu streiken.“ 

Während der Reden beginnt es immer wieder stark zu regnen, die Warnwesten verschwinden unter Regenschirmen. Alle Mitarbeitenden der Kliniken werden nach vorne gerufen und hinter ihnen bildet sich ein langer, sehr langer Demonstrationszug. Auf den Schildern stehen die aus den Redebeiträgen bekannten Probleme in einprägsame Sprüche verpackt: „Pflege: come in & burn out“, „Personal so kaputt wie die Hüfte deiner Oma“ oder „The Working Dead – die Pflege hat sich totgepflegt“. Die Menge wird angeheizt, die Stimmung immer wütender, so dass man sich ihr auch als (neutrale:r) Beobachter:in kaum noch entziehen kann. Nach wenigen Metern kommt der Zug das erste mal zum Stehen, denn die Bewohner:innen des Bettenhauses zeigen ihre Solidarität mit den Demonstrierenden mit einem Feuerwerk. Auch die Demonstrierenden selbst zünden Pyrotechnik, bis die Polizei mit einer Auflösung der Demonstration droht. Während der Zug in Bewegung ist, melden sich Menschen zu Wort, und in vielen Redebeiträgen sickert immer wieder durch, dass die Ursache des Problems Personalmangel noch tiefer liegt, nämlich in der Privatisierung des Krankenhauses. 

Die Ursünde: Privatisierung des UKGM

Das UKGM wurde im Jahr 2006 für 112 Millionen Euro an die Rhön-Klinikum AG verkauft und befindet sich seitdem in der Hand eines börsenorientierten Unternehmens. Seitdem wird immer wieder massive Kritik sowohl an der Qualität der Gesundheitsversorgung als auch an Arbeitsbedingungen geübt, im Jahr 2021 wurde sogar eine Petition an den hessischen Landtag übergeben, die forderte, das UKGM zurück in öffentliche Hand zu geben. (Mehr dazu, wie sich die Privatisierung des Klinikums auch auf die medizinische Lehre auswirkt, findet ihr hier.)

Die Klinikleitung fordert seit Beginn des Streikes dazu auf, den Streik zu beenden, was laut ver.di aber erst passieren wird, wenn es zu einer Einigung gekommen ist. Am Samstag sprachen beide Seiten erstmals von konstruktiven Verhandlungen, was die Hoffnung auf eine Einigung im Streit um den TVE am Dienstag, den 04. April stärkt.

(Lektoriert von let und hab.)

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