Die medizinische Lehre leidet unter den Bedingungen im Universitätskrankenhaus
Wie das Universitätskrankenhaus wieder Marburgs Stolz werden kann
Marburg ist in Deutschland als moderner Wissenschaftsstandort bekannt und die Philipps-Uni ist bei Medizinstudierenden beliebt. Kein Wunder: Mit einer der größten Unikliniken in ganz Deutschland zieht Marburg jedes Jahr über 350 neue Medizinstudierende an. Oft ist das Uniklinikum Gießen und Marburg (UKGM) für diese ein ausschlaggebender Punkt bei der Entscheidung des Studienorts. Das UKGM beeinflusst nicht nur den größten Fachbereich der Uni, die Medizin, sondern auch viele der restlichen Bewohner:innen der Stadt, denn das Uniklinikum ist einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Dass so viele Menschen von der Klinik abhängig sind, macht es umso schlimmer, dass Marburg seit 2006 noch für etwas ganz anderes bekannt ist: Das UKGM ist europaweit das einzige Uniklinikum, dass sich nahezu vollständig in privater Trägerschaft befindet, was den Arbeitsalltag und die Lehre stark beeinflusst.
Die Privatisierung war ein Fehler
„Allen ist klar, dass die Privatisierung falsch war, das Land muss wieder Kontrolle ergreifen!“, so beginnt der Marburger Bürgermeister Thomas Spieß seine Rede bei der digitalen Stadtversammlung am 09. Februar 2023. Zu dieser hat die Krankenhausbewegung Gießen Marburg aufgerufen, um auf die Umstände im UKGM seit der Privatisierung aufmerksam zu machen. Fast 400 Teilnehmer:innen sind anwesend: Das Thema betrifft die ganze Stadt. Aber was ist eigentlich genau das Problem?
Am 31. Januar 2006 wurde das UKGM unter der damaligen CDU-Regierung von Ministerpräsident Roland Koch an die Aktiengesellschaft Rhön-Klinikum für 112 Millionen Euro verkauft. Das so etwas passiert war neu: Unikliniken werden eigentlich staatlich finanziert, ein privates Uniklinikum gab es in Deutschland noch nie. Die Begründung lautete, dass dadurch der Hessische Landtag kein Geld mehr für die Kliniken aufwenden müsste, was eine große Entlastung wäre. Das ist eine von diesen politischen Entscheidungen, die so eindeutig eine Fehlentscheidung sind, dass 17 Jahre später kaum noch nachvollzogen werden kann, warum sie gefällt wurden. Von Anfang an gab es Proteste und politischen Widerstand von anderen Parteien gegen die Privatisierung, weil Mitarbeitende die Verschlechterung der Möglichkeiten zur Patientenversorgung und Arbeitsbedingungen befürchteten. Zu Recht.
Dauerhafte Unterbesetzung, Doppelbelastung und Existenzängste
„Ich möchte endlich wieder sicher sein, alle meine Patienten gut versorgen zu können“, so eine Krankenpflegerin aus der Anästhesie bei der Onlineversammlung. Die Situation sei nicht mehr tragbar. Seit der Privatisierung stehe für den Konzern Profit vor dem Patientenwohl, beklagt die Initiative. Die Qualität der Behandlungen sei dramatisch eingebrochen. Bei der digitalen Stadtversammlung erzählt das Personal des UKGM aus seinem Alltag. Eine Mitarbeiterin aus dem Kreissaal kommt zu Wort, ihr Name ist Selina Henkel. „Ich möchte einfach nicht überlegen müssen, ob wir am Ende des Tages noch irgendwo eine Frau vergessen haben, weil es einfach zu viele waren“, erklärt sie verzweifelt. Bürgermeister Spieß betont den Zusammenhang zwischen der Sicherheit der Patient:innen und der Anzahl der Pflegenden. Aber genau hier liegt das Problem: Das Personal reicht einfach nicht aus, um die vielen Patient:innen ausreichend versorgen zu können. Seit 2021 kam es zu Kündigungswellen am UKGM, bei denen teilweise fast alle Pflegekräfte einer Station auf einmal gekündigt haben. Die Kündigung kann man den Pflegenden nicht vorwerfen, oft sehen sie diese als letzten Ausweg, aus sehr schlechten Arbeitsbedingungen herauszukommen. Der Bürgermeister fordert: Genau wie es Aufgabe des Gesetzgebers ist, sich um Hygienestandards zu kümmern, sollte es auch Aufgabe des Gesetzgebers sein, sich um gute Arbeitsbedingungen für das Personal zu kümmern. Er spricht seine volle Unterstützung für die Krankenhausbewegung Gießen Marburg aus. Noch wird sich allerdings nicht um genau diese guten Arbeitsbedingungen gekümmert. Stattdessen steht Profit für die Besitzenden des UKGM, die Röhn-Klinikum Aktiengesellschaft, ganz vorne. Das führt zu dauerhafter Unterbesetzung, Doppelbelastung und Existenzängsten unter dem Pflegepersonal, so Lea Falkenhain von der Intensivstation.
„Die Lehre wird oft hintenangestellt“
Die Vollversammlung neigt sich dem Ende zu. Pfarrer Franz Langstein kommt auf die Bildungsfunktion des UKGMs zu sprechen. Er findet es schlimm, dass jungen Medizinstudierenden, die es sich zum Ziel gemacht haben, Menschenleben zu retten, später in der Arbeitswelt ihrer Ideale beraubt und zur Kündigung gezwungen werden. Er appelliert an den Arbeitgebenden: „Benutzen Sie nicht den Menschen als Kostenfaktor, der möglichst reduziert werden muss.“ Auch Krankenschwester Nilüfer Cankurt berichtet von der Überforderung, in einem Dienst, der sowieso schon zu viel von einem verlangt, auch noch angemessen Studierende betreuen zu müssen. Dass dieses Problem nicht nur auf der Stadtversammlung thematisiert wird, erfahre ich von Jakob, der ein Mitglied des Fachbereichsrates des Fachbereichs Medizin an der Uni Marburg ist. Er schildert mir, wie die Situation am Uniklinikum für Medizinstudierende ist: „Am ehesten kann man das so zusammenfassen, als dass die Lehre oft hintenangestellt wird, wenn Ärzt:innen alleine (weil nicht genug Personal) arbeiten. Konkret fallen Seminare, Präsenztermine und Vorlesungen aus, weil die Ärzt:innen (natürlich) immer erst die Patient:innen behandeln, bevor sie uns unterrichten. Eigentlich sollte das aber so geregelt sein, dass Ärzt:innen explizit Zeit für Lehre haben, ohne nebenbei noch die Station zu schmeißen, das funktioniert aber leider bei Weitem nicht immer.“
Auch für die Erstsemestler:innen der Medizin ist die Privatisierung ein wichtiges Thema: Johanna hat im Wintersemester 2022/23 angefangen, an der Uni Marburg zu studieren und erzählt, dass die Privatisierung etwas ist, über das sich die Dozierenden und Studierenden auch zwischen den Vorlesungen unterhalten. Die Dozierenden erzählen davon, wie, aus Kostengründen Forschungsstationen abgebaut wurden und Lieferungen von Medikamenten von Kosten abhängig gemacht werden – nicht vom Bedarf. Eine offizielle Veranstaltung zu dem Thema oder einen Info-Abend speziell für Studierende der Medizin gab es aber nie.
Stichtag 24. März – Zugeständnisse oder Streiks
Zurück zur Stadtversammlung. Auch der Marburger Arzt Stephan Heinrich Nolte ist entsetzt über die mangelhaften Verhältnisse im Uniklinikum. Er gibt zu bedenken: „Eine Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Umsetzung.“ Auf dem Papier wäre aber schonmal ein Anfang, dafür haben die Veranstaltenden dem Arbeitgebenden ein Ultimatum aufgestellt: Sie fordern mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen. Darauf muss der Arbeitgebende innerhalb von 100 Tagen – bis zum 24. März – reagieren, sonst droht ein Streik. Dies seien keine unverhältnismäßigen Forderungen, nur ein nötiger Standard, der gesetzt werden muss, so die Veranstaltenden. „Wir wollen 2023 zum Entscheidungsjahr für eine gute Gesundheitsversorgung in Marburg machen“, steht auf einem Flyer, den sie verteilt haben. Gab es schon Reaktionen vom Arbeitgeber auf das gestellte Ultimatum, wurde es anerkannt, frage ich. „Ja, er zeigt ‚bisher‘ Bereitschaft mit uns zu verhandeln“, antwortet einer der Veranstaltenden. Trotzdem wurde schon eine Demo für den 31. März angesetzt, falls es nicht zu einer Einigung kommt. Immerhin ist dies nicht die erste Initiative, die versucht die Lage zu ändern. Petitionen und Aufstände gab es über die letzten 17 Jahre einige. Aber diesmal scheint es ernster: Die Stimmung in der digitalen Stadtversammlung ist betroffen, keiner will, dass es zum Streik kommen muss. Operationen, die kein Notfall sind, müssten verschoben werden, denn alles müsste heruntergefahren werden, sonst würde kein Druck für den Arbeitgebenden entstehen. „Wir wollen nicht streiken, aber das liegt in den Händen des Arbeitsgebers“, fasst eine Krankenpflegerin zusammen.
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ist 2002 in Berlin geboren und studiert Soziologie im Bachelor. Seit Januar 2023 beim Philipp Magazin in der Redaktion aktiv
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