Demo bei Kanzlerbesuch: Studi-Interessen vs. Monopolinteressen

Demo bei Kanzlerbesuch: Studi-Interessen vs. Monopolinteressen

Der Besuch des Bundeskanzlers am vergangenen Donnerstag hat in Marburg für viel Aufruhr gesorgt. Nach einer Besichtigung bei Biontech und einem Besuch im Kinder- und Jugendparlament stellte sich Olaf Scholz einem Bürgergespräch, währenddessen zogen mehrere Demonstrationen durch die Stadt. Unsere Redakteur:innen Elena und Jakob waren beim KiJuPa (Kinder- und Jugendparlament)-Empfang und auf der AStA-Demo vor Ort und berichten.

Mehr als 500 Teilnehmende

Die letzten Jahre waren für junge Menschen nicht leicht: Geschlossene Schulen und Universitäten, eine katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt und Preissteigerungen, die für viele Studierende nur schwer zu stemmen sind; und über allem schwebt die akute Bedrohung unserer Zukunft durch den Klimawandel. Nicht nur während der Pandemie fühlten sich Studierende von der Politik übergangen, auch die nötige finanzielle Unterstützung in der aktuellen Lage kommt, ähnlich wie eine wirkungsvolle Klimapolitik, nur sehr schwer ins Rollen. Deshalb nahmen viele junge Menschen den Besuch des Bundeskanzlers in Marburg zum Anlass in Form von Demonstrationen auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte am Donnerstag einen engen Zeitplan bei seinem Besuch in Marburg: Morgens besichtigte er eine neue Anlage von Biontech, danach nahm er an einer Sondersitzung des Kinder- und Jugendparlaments Marburg teil und am Abend hielt er mit 150 ausgelosten Personen ein Bürgergespräch im Marburger Lokschuppen ab. Eine Gesellschaftsgruppe trifft er nicht zum Gespräch an, nämlich Studierende und Auszubildende. Die verschaffen sich aber auch so Gehör: Mindestens 500 Demonstrant:innen sind am Donnerstag durch Marburg gezogen. 

Scholz souveräner im Umgang mit Kindern als Laschet?

Noch vor zwei Wochen zeigte Karl Lauterbach (SPD) Einsicht gegenüber der Aussage, dass unter Pandemiebedingungen vor allem Kinder und junge Erwachsene vernachlässigt wurden. Uns, Jakob und Elena von der Philipp-Redaktion, interessiert wie Scholz diese Vernachlässigung der jungen Menschen (nicht nur bezüglich Corona-Maßnahmen) ändern will. Dafür waren wir beim KiJuPa-Empfang und bei der vom Allgemeinen Student*innen-Ausschuss (AStA) organisierten Demonstration und berichten.

Am Morgen, bei Scholz Besuch im Pharmaunternehmen Biontech wurde vor allem über die weitere Förderung des Produktionsstandortes Marburg gesprochen. Währenddessen sitzen wir schon im Erwin-Piscator-Haus und erwarten Olaf Scholz im KiJuPa, ein Verein, der sich selbst als ein Beteiligungsprojekt für Kinder und Jugendliche versteht. Er ist ein Teil des Jugendbildungswerkes der Stadtverwaltung Marburg und hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich mithilfe eines Rede- und Antragsrechts für die Interessen von Kindern und Jugendlichen einzusetzen, die in letzter Zeit in der Politik etwas zu kurz kamen.

Die Vorbereitungen für die KiJuPa-Sitzung laufen schon. 119 Kinder und Jugendliche im Alter von 6-18 Jahren haben die Möglichkeit Scholz Fragen zu stellen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Am Anfang herrscht nervöse Stimmung unter den Kindern und Jugendlichen: „Kann man am Scheinwerfer noch was machen?”, fragt die 17-jährige Marie Kaiser, die eine der sieben Jugendlichen ist, die gleich auf der Bühne das Gespräch mit dem Kanzler führen werden. Scholz kommt 15 Minuten zu früh. Die Kinder sind trotzdem direkt bereit, nehmen ihre Positionen ein und beginnen ganz professionell mit der Vorstellung des KiJuPa: „Unser Vorsitzender ist für das KiJuPa ungefähr, was der Bundeskanzler für Deutschland ist”, erklärt Magdalena Hescher, woraufhin Scholz schmunzelnd die Hand des KiJuPa “Kanzlers” Lasse Wenzel schüttelt. Unweigerlich müssen wir an das Interview mit Armin Laschet denken, in dem dieser von Kindern provokante Fragen gestellt bekam, was ihn komplett überforderte. Scholz Auftritt mit den Kindern wirkt souveräner, möglicherweise auch, weil er in den ersten 15 Minuten kaum ein Wort sagt. Der wichtige Teil der Sitzung, das Gespräch und die Fragerunde mit dem Kanzler, fand allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wir mussten den Saal also verlassen. Die Mitglieder des KiJuPa hatten zu verschiedenen Themen, wie zum Beispiel Jugendarmut, die Folgen der Coronapandemie, aber auch Bildungs- und Klimapolitik, Fragen vorbereitet und hofften auf einen „Austausch auf Augenhöhe”. Diese Hoffnung wurde laut den Teilnehmenden bestätigt, denn sie lobten den Kanzler im Nachhinein als einen guten Zuhörer (die meisten Menschen auf den Demos nehmen das sicher anders war) und sagten, er habe „die meisten Fragen gut beantwortet”, was auch immer das heißen mag.

Scholz im KiJuPA Marburg

Kampfsprüche in der Kälte: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die grüne Partei!”

Eine vergleichbare Veranstaltung für Studierende und Auszubildende gibt es nicht, stattdessen ist Scholz nächster Termin das Bürgergespräch mit 150 ausgelosten Marburger:innen. Unser nächster Programmpunkt ist die Demo am Hauptbahnhof. Gleich mehrere Demonstrationen fanden am Donnerstag in Marburg statt: Unter anderem von den „Weiterdenkern“ (Querdenkern) und den „Russland-Freunden“, bei bei denen jeweils weniger als 50 Menschen teilnahmen. Die größte Demo am 02. Februar war die vom AStA, der DIDIF-Jugend und vom internationalem Jugendverein organisierte Demo. Sie fand unter dem Motto „Flip the Switch – 100 Milliarden für die Jugend” statt, ein Appell an den Bundeskanzler – ähnlich wie für die Bundeswehr – ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um der Notlage, in der sich viele junge Menschen befinden, entgegenzuwirken. Um 16:30 Uhr begann am Hauptbahnhof die Demo mit einer Kundgebung. Trotz schlechtem Wetter und Kälte demonstrierten laut Polizei 500 Personen, die Veranstaltenden sprachen sogar von 700 Teilnehmer:innen. Der Zug Menschen setzt sich vom Hauptbahnhof in Richtung Innenstadt in Bewegung. Viele tragen Banner oder Schilder, Kampfsprüche schallen durch die Straßen: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die grüne Partei!”.

Vor dem Marburger SPD-Sitz kommt die Menge zum Stehen. Langsam wird es dunkel, aber die wütende Stimmung bleibt. In der engen Nebenstraße der Biegenstraße wirkt die Menge noch größer. Einige treten vor, um Reden zu halten. Die Themen, die die Redner:innen beschäftigen, sind ähnliche wie die, denen sich der Bundeskanzler auch in der Fragerunde des KiJuPa stellen musste: die unfairen wirtschaftlichen Bedingungen für junge Menschen, die Waffenlieferung an die Ukraine, die versprochenen 200 Euro Energiepauschale und die verfehlte oder vergessene Klimapolitik. So heißt es in den Reden: „Ab 25 wird vieles teurer; Krankenversicherung und das fehlende Kindergeld werden zum Problem. Dazu kommen noch die gestiegenen Preise. Deswegen sind Energieentlastungszahlungen dringend notwendig”, „Es sind keine Luxusprobleme, von denen wir hier reden, sondern essenzielle!“ oder, um das Gefühl, das viele aktuell umtreibt, auf den Punkt zu bringen: „Es wird sich in der Politik nicht für uns interessiert, denn die Interessen der Studierenden stehen den Monopolinteressen entgegen”.

Studis und Azubis gehen unter im „Land der Wohlhabenden“

Danach geht es Richtung Marburger Lokschuppen, wo noch immer das Bürgergespräch im Gange ist. Es ist mittlerweile dunkel und um zum Lokschuppen zu kommen müssen alle 500 Demonstrant:innen über eine Brücke auf die andere Seite der Schienen kommen, wodurch eine lange Schlange vor der Treppe entsteht. Trotzdem verliert die Menge nicht an Personen: der Höhepunkt steht erst noch bevor. Im Lokschuppen beendet Olaf Scholz gerade das Bürgergespräch, aber vor dem Gebäude warten jetzt 500 Menschen, die auch alles geben, um gehört zu werden. Die Rufe werden lauter und die Reden energischer: Eine Auszubildende vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) erzählt emotional und wütend, wie sie aufgrund von Personalmangel in ihrem ersten Ausbildungsjahr Aufgaben übernehmen musste, die nicht für Auszubildende gedacht waren, wie zum Beispiel das Betreuen von Krebspatient:innen, die in Quarantäneräume eingewiesen wurden.

Am 09. Februar findet eine Online-Versammlung statt, in der es um genau diese Probleme am UKGM geht. Die Studierenden und Azubis fühlen sich seit Jahren nicht gesehen und nicht gehört, in einer Rede fällt der Satz: „In Deutschland leben wir vorerst nicht in einem reichen, wohlhabenden Land, sondern vor allem in einem Land der Wohlhabenden und Reichen.”

Die Polizei begleitet immer gegenwärtig, aber die Demo verläuft friedlich. Die Forderungen wurden sehr deutlich: Nach Jahren, in denen Politiker:innen junge Menschen hintenangestellt haben, wollen diese jetzt endlich gehört werden. Dafür rufen sie ihre Anliegen auch in der Kälte und im Nieselregen, basteln Schilder, Banner und halten Reden. Scholz scheint sein Gewissen der jungen Generation gegenüber mit seinem Besuch im KiJuPa beruhigt zu haben. Dass Kinder und Jugendliche eine ganz andere Stellung in der Gesellschaft einnehmen als Studierende und Auszubildende und damit auch andere Anliegen haben, wird außer Acht gelassen. Ob das Gespräch mit dem KiJuPa oder die Forderungen der Demonstrant:innen sich auf das Handeln des Politikers auswirken, wird sich zeigen. 100 Milliarden für die Jugend wurden gefordert. Ein erster Schritt wäre es, die versprochenen 200 Euro Energiepauschale auszuzahlen.

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Elena Weller und Jakob Pohl.

(Lektoriert von let und hab.)

ist seit Januar 2023 Mitglied in der Philipp Redaktion. Studiert Soziologie im Bachelor und ist 23 Jahre alt.

ist 2002 in Berlin geboren und studiert Soziologie im Bachelor. Seit Januar 2023 beim Philipp Magazin in der Redaktion aktiv

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