Theater Review #6: Bartleby!

Theater Review #6: Bartleby!

Am Samstag besuchten wir die Uraufführung von „Bartleby!“ im Hessischen Landestheater Marburg, eine Intervention von Dirk Raulf und Martin Schulze nach der 1853 veröffentlichten Erzählung von  Herman Melville. Der Autor von „Moby Dick“ lässt dem inneren Schweinehund in der Gestalt des Schreiberlings Bartleby freien Lauf.

Wir hatten eine schlechte Woche. Wir haben uns gefragt: muss das alles sein, dieser Stress? Wir kamen kurz vor knapp am Theater an, aus der Puste und zugeschneit. Wir haben uns hingesetzt und gewartet. Das Warten dauerte zehn Minuten und gehörte zur Performance. Wir waren sehr froh darüber. Doch das Warten wird in unserer Effizienz-geleiteten Gesellschaft sonst eher als Fehlinvestition betrachtet. Die ersten Leute überlegen nach zehn Minuten schon zu gehen. Doch: Kann man einfach gehen? Immerhin haben sie doch alle Eintritt bezahlt! Im Stück werden diese eigenen Unsicherheiten in Wartesituationen thematisiert: „Dann muss man halt mal reinschauen in den eigenen Abgrund.“ Doch was, wenn es dort langweilig ist? Wir fühlen uns ertappt in unserer Ablenkungssucht und dem Unvermögen, uns zurückzulehnen.

Verweigerung der Arbeit, Verweigerung des Lebens

Mal abwechselnd, mal gegeneinander sprechen die Darsteller:innen Bartleby, den Kopisten an der Wall Street und seinen Arbeitgeber, den Notar. Auch im Theater ist der Rechtsanwalt der Ich-Erzähler – sehr genau wird beschrieben, wie das Verhalten seines Angestellten ihn in emotionale Verwirrungen treibt. Was in Bartleby vorgeht, kann nur vermutet werden. Der ein oder andere Stream-Of-Consciousness-Moment schmückt die Performance aus und lässt durch Analogien zur heutigen Zeit erahnen, in was für einer Situation sich der Mensch im frühen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts befunden haben muss. An oberster Stelle die Moral, der Arbeit natürlich. Die Erzählung wird durch Monologe der Darsteller:innen unterbrochen, für wen sie sprechen – ob für sich oder für die Allgemeinheit – sei dahingestellt.

Das handlungsimmanente Büro wird in der Black Box vor allem über Papier in Schreibmaschinen und Schreddern versinnbildlicht. Aus den Papier-Zerstückelungsmaschinen, welche von der Decke hängen, fließen lange Papier-Fäden. Ab und zu erschüttern ratternde Konfetti-Salven die Kulisse. Produzieren und Vernichten, ein Alltag und ein Kreislauf, dem sich Bartleby entzieht. Der Rechtsanwalt beobachtet dieses Verhalten zunächst mit Interesse, dann mit Ärger, der zum Mitgefühl wird und zu guter Letzt mit Gleichgültigkeit. Er beneidet Bartleby nie um dessen Verweigerung, seine aufkeimende Sympathie gegenüber dem Verweigerer kann er sich selbst nicht erklären.

Proto-Kafka

„Nichts kann einen ernsthaften Menschen so aufbringen wie passiver Widerstand.“ ist folgerichtig eine selbstkritische Äußerung des Rechtsanwalts. Das Nein des Angestellten konfrontiert den Arbeitgeber mit einer unbekannten Situation. Doch ist es nicht ein klares „Nein“, nein, vielmehr ist es ein höfliches „ich möchte lieber nicht“. Kein wollen, kein sollen, er möchte einfach nicht und macht es folglich auch nicht. Höflichkeit und Sympathie verbieten es dem Rechtsanwalt, den Dienstverweigerer herauszuwerfen oder zur Tätigkeit zu zwingen. In Melvilles Erzählung überspitzt sich die Situation so weit, dass am Ende der Rechsanwalt selbst das Büro räumt, um nicht mehr mit der Verweigerung konfrontiert zu werden, der er sich ausgeliefert sah. Ein einfaches „nein“ hätte in der Leistungsgesselschaft vermutlich zum Rauswurf  geführt, doch die höfliche Formulierung ist zu sanft, zu glatt. Sie bietet keinen Angriffspunkt für ein System das nur aus Ja und Nein besteht. In diesem Sinne war die Erzählung schon kafkaesk, bevor es Kafka überhaupt gab und auch Bartleby wird als eine psychisch am Leben erkrankte Person beschrieben, die innerlich bereits begraben war, bevor es zu einem physischen Tod kam.

Verweigerung ist ein Luxus

Warum das Stück und die Darsteller:innen sich darin selbst der Hurerei bezichtigen? Man ist gefangen in einem Netz aus Vereinbarungen uns Verantwortungen, oft gegen seinen Willen dazu angehalten, etwas zu erledigen, eine Show zu spielen. Oder drei Stunden lang eine Show zu betrachten, deren Inhalt sich in wenigen Worten offenbart hätte. Aber kann man einfach gehen? Immerhin wurde ein Kaufvertrag abgeschlossen, eine Vereinbarung. Wir erinnern uns an den Beginn der Inszenierung. Bartleby steckt in jedem:r von uns und klopft hier und da an der Vernunft an. Nein, eigentlich habe ich keine Lust auf die fünfte Mindestlohn-Schicht diese Woche. Ich möchte lieber nicht die PowerPoint erstellen, um die sich sonst niemand kümmert. Eigentlich möchte ich nicht den Abwasch für meine Mitbewohner mitmachen und eigentlich will ich nicht nur 6 Stunden schlafen. Lassen wir unseren Bartleby ruhig mal für uns sprechen – wer weiß, wie erholsam das sein könnte.

Regie: Martin Schulze Besetzung: Lene Dax, Insa Jebens, Michael Köckritz (a.G.), Karlheinz Schmitt Musik: Dirk Raulf AusstattungSilvie Naunheim Dramaturgie: Matthias Döpke

Die nächsten Aufführungen sind am 19.01., 01.02., 07.02., 18.02. und 19.02.2017 jeweils um 19.30 Uhr in der Blackbox am Schwanenhof.

FOTO: Neven Allgeier

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