Was bedeutet der Medizin-Nobelpreis für die Wissenschaft, Prof. Lill?

Was bedeutet der Medizin-Nobelpreis für die Wissenschaft, Prof. Lill?

Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkentnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oftmals schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger:innen eigentlich ausgezeichnet werden. PHILIPP sprach mit Prof. Dr. Roland Lill über Yoshinori Ohsumi und warum der Abfall der Zellen wichtig ist.

PHILIPP: Wofür erhält Yoshinori Ohsumi den Nobelpreis?

Prof. Lill: Ohsumi gelang es als erstes, die Funktionsweise der Autophagie (aus dem Griechischen für „sich selbst verzehrend„, Anm. d. Red.) und die Rolle der Lysosomen einer molekularen Entschlüsselung zuzuführen (ihren genetischen Code teilweise zu entschlüsseln, Anm. d. Red). Diese Prozesse waren zuvor bereits unter dem Elektronenmikroskop beobachtet worden, ohne dass jedoch etwas über die beteiligten Moleküle bekannt war. Ohsumis großer Verdienst war es, die ersten beteiligten Gene und die darin kodierten Proteine zu identifizieren. Dies half in der Folge, den molekularen Mechanismus der Autophagie aufzuklären. Er erhält den Nobelpreis also für die Entdeckung der ersten Moleküle der Autophagie.

Können Sie diese komplexen Prozesse einfach erklären?

Autophagie sorgt für ein gewisses Gleichgewicht in der Zelle. Man kann sich die Zelle in etwa wie eine Stadt vorstellen, in der viele Produktionsprozesse in sogenannten Organellen (das sind bestimmte Zellkompartimente wie die Mitochondrien, Anm. d. Red.) stattfinden. In diesem Bild würden Lysosomen die Funktion einer perfekten Recyclinganlage einnehmen, die nicht mehr gebrauchte oder defekte Substanzen abbauen und einem Recycling zuführen. Sind z.B. zu viele Organellen einer Sorte vorhanden oder einzelne Organellen gar fehlerhaft, so werden diese abgebaut und die Abbauprodukte von der Zelle wiederverwendet. Diesen Prozess nennt man Autophagie. Es werden also einzelne Proteine oder sogar ganze Zellorganellen in ihre Bestandteile zersetzt und anschließend der Zelle wieder zur Verfügung gestellt, um damit neue Produkte zu bilden. Dieser Mechanismus verleiht den Zellen eine hohe Flexibilität, um sich auf eine ständig ändernde Umwelt einzustellen.

Wie genau wurden diese Abläufe in der Zelle denn entdeckt?

Ohsumi experimentierte mit Hefe-Zellen, die genetisch verändert wurden. Sobald der Prozess der Autophagie bei diesen nicht mehr stattfand, konnten die Hefezellen bei Nahrungsmangel nicht mehr wachsen, da ein für die Autophagie benötigtes Gen mutiert und damit defekt war. So gelang es ihm, eine Reihe der beteiligten Gene zu entschlüsseln und damit die molekulare Forschung auf diesem Gebiet überhaupt erst zu ermöglichen. Übrigens wurde nur acht Monate nach Ohsumis bahnbrechender Publikation von Stuttgarter Forschern eine ähnliche genetische Untersuchung publiziert, die weitere Autophagie-Gene beschrieb. Leider wurde das in der Presse kaum erwähnt.

Haben Sie Yoshinori Ohsumi denn jemals getroffen?

Ja, letztes Jahr auf dem Symposium der Gairdner Foundation in Kanada. Mehrere Forscher hielten zwei Tage lang Vorträge zu ihren Ergebnissen unter Anwesenheit vieler Professor:innen und Studierenden. Ich kann nicht nachprüfen wer bei der Veranstaltung anwesend war, daher habe ich nicht gegendert. So waren nunmal seine Worte. Unter den Rednern waren auch Ohsumi und ich. Der Nobelpreis lag damals schon in der Luft, seit langem galt Ohsumi als Kandidat. Ihn selbst nahm ich als sehr nett und enorm bescheiden wahr. Immer wieder verwies er auf die Erfolge anderer Forschenden, da das Feld mittlerweile von sehr vielen Wissenschaftler:innen beforscht wird. Dabei war allen Anwesenden klar: Er ist der erste Experte auf diesem Gebiet, von ihm konnte diesbezüglich jeder noch etwas lernen.

Abschließend: Wie sieht es um die Zukunft Ohsumis und seiner Forschung aus?

Ohsumi ist inzwischen über 70 Jahre alt und forscht heute an einer privaten Universität in Japan. Er forscht seit 27 Jahren auf seinem Gebiet und wird das in Zukunft wohl auch fortführen, einen richtigen Ruhestand strebt er nicht an. Ihn leitet die Neugier und obwohl wir inzwischen viel über die Autophagie wissen, verstehen wir vieles heute noch immer nicht. So lange es etwas gibt, das Forschende nicht verstehen, werden sie versuchen es zu verstehen und zu erklären. Das gilt natürlich auch für Ohsumi.

ZUR PERSON Prof. Dr. Roland Lills ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Zytobiologie und Zytopathologie des Fachbereichs Medizin. Für seine Arbeit an Mitochondrien erhielt er bisher zahlreiche Preise, u.a. den Preis der Feldberg Foundation oder den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. 2014 wurde er in den Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewählt.

FOTO: Emma Farmer auf Wikimedia Commons, gemeinfreies Werk

Chefredakteur von 2017-2018 aus Gründen.
Kann ganz gut mit Worten, halb gut mit Menschen.
Studiert nebenberuflich Medienwissenschaften.

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