Was für ein Zufall! – Studentischer Schreibwettbewerb und Lesung
„Was ist eigentlich Zufall? Ist Zufall das, was Menschen als Schicksale ereilt, für die sie nie bestimmt waren? Oder vielleicht doch etwas ganz anderes? Sollte ein freier, denkender Mensch nie dort stehen bleiben, wo der Zufall ihn hinstößt? Und wie kann es gelingen, das in planbare Sprache zu fassen, was ungeplant, sprachlos geschieht?“ – diesen Fragen stellten sich die über 20 Teilnehmenden des Schreibwettbewerbs „Was für ein Zufall!“. Organisiert wurde dieser von der Lehrredaktion des Masterstudiengangs Literaturvermittlung in den Medien und finanziell unterstützt durch das Marburger Literaturforum. Der Wettbewerb war offen für alle Interessierten, auch Nicht-Studierende. Nachdem die eingereichten Texte in den Sitzungen der Lehrredaktion besprochen worden waren, wurden fünf ausgewählt, die bei der Abschlussveranstaltung am 14.02.2023 vor Publikum vorgetragen und diskutiert werden sollten. An besagtem Tag, kurz nach 20 Uhr, versammelten sich also im Café am Grün zwischen Pflanzen, Rentierfotos und improvisierten Stuhlreihen nach und nach mehr als 30 Literaturinteressierte.
In einer kurzen Begrüßungsrede kommentierte Laura Schiller, die moderierend durch den Abend leitete, es tue gut, mal über Texte zu sprechen, die von außenstehenden Personen verfasst wurden, da in der Lehrredaktion wöchentlich selbst geschriebene Texte – teils sehr kritisch – auseinandergenommen worden seien. Einen kurzen freundlichen Beifall später ging es richtig los. Johannes Vent las seinen Text Wie mich der Zufall zu Fall brachte vor, in dem er sich selbstreferentiell und oft ironisch mit Schreibblockaden, Autorschaftsinszenierungen und den „halbschummrig-lauschigen Cafés“ Marburgs befasst. Zu letzteren zählte an diesem Abend auch der Veranstaltungsort. Im Publikum herrschte während des Vortrags gespannte Stille, zu lachen traute sich niemand, obwohl der Text das an mehreren Stellen hergegeben hätte. Vielleicht, weil es der erste Vortrag war. Anschließend diskutierten die Lehrredaktionsmitglieder Laura Relitzki, Leonie Theiding, Annabell Sent und Rieke Johannes sowie PD Dr. Manuel Bauer – als Dozent – über den Text. Während ein Teil der Jury den Umgang mit dem Thema, der zufälligen Begegnung mit der Ausschreibung für den Wettbewerb und dem Wunsch, dort etwas einzureichen, charmant bis amüsant fand, wurde kritisiert, dass der Text durch die gehäufte Ironie bisweilen seine Ernsthaftigkeit verliere.
Spätes Geständnis, frühe Kontroverse
Ohne längere Unterbrechung, in der sich die Zuhörenden von ihren stillen Lachern hätten erholen können, startete Manuel Stark in seine melancholische Kurzgeschichte Spätes Geständnis, die von einem zu späten Geständnis gegenüber dem verunglückten besten Freund erzählt. Für betroffene Stille blieb allerdings kaum Zeit, da ohne Umschweife die nächste Diskussion begann, in der Laura Relitzki den Begriff des Zwischenraums fallen ließ, der von der restlichen Jury mehrfach aufgegriffen wurde. Lob fanden die bildliche Sprache, sowie die tiefgründige, beinahe philosophische Auseinandersetzung mit Zufall und Schicksal. Ansonsten wurden sich die Diskutierenden kaum einig: Wirkte der Text vorgelesen anders als still gelesen? Ist er emotional oder gar kitschig?
Während Lea Kolodzie die Höhe des Mikrofons verstellte, wurde es kurz unruhig im Publikum, das allerdings schnell wieder still wurde, als sie begann, ihr Gedicht mit dem Titel Ich habe alles und du hast nichts vorzutragen. Das einzige Gedicht des Abends beschäftigte sich mit den Auswirkungen struktureller Gewalt und dem Zufall der Herkunft, während das namenlose lyrische Ich einem Menschen mit Fluchterfahrung gegenübersitzt, der selbst jedoch nicht zu Wort kommt. Die darauffolgende Diskussion war wohl die kontroverseste des Abends, da Unentschiedenheit darüber herrschte, ob das Gedicht die bestehenden Strukturen problematisiert oder lediglich reproduziert. So relevant und dringlich das Thema auch sei, löste die Umsetzung in Teilen der Jury Empörung und Unwohlsein aus. Natürlich wurde auch die alte Frage danach gestellt, inwiefern Sprache Wirklichkeit schafft. Jurymitglied Bauer beanstandete zudem die unreinen Reime und die Rhythmisierung des Gedichts.
Weingetränkter Sisyphos
Nach einer kurzen Pause folgte Silke Jägers Kurzgeschichte Albert. Bis zum Schluss bleibt darin offen, ob es sich bei Albert um ein Buch handelt oder um eine dem Philosophen und Autoren Albert Camus nachempfundene Figur. Durch diese Unklarheit und das wiederholte Überdenken während des Leseprozesses fühlte sich die Jury an den Sisyphos-Mythos erinnert, der sich in Form des repetitiven Alltags der Hauptfigur (das Geschlecht bleibt unklar und irrelevant) auch im Text wiederfindet. Die Kurzgeschichte erhielt eine fast durchweg positive Rückmeldung, obwohl sie einen Teil ihrer Nachdenklichkeit durch das Vorlesen verliere, da sie sich auch thematisch eher mit dem Lesen befasse. Die vielen offenen Fragen und das bleibende Gefühl, die produktive Sinnlosigkeit nur akzeptieren zu können, schwebten noch eine Weile in der Luft.
Martha Schoops Kurzgeschichte Wie die Kunst wurde auf Wunsch der Verfasserin von einem Jurymitglied vorgetragen. Dieser Text griff, wie bereits der erste, die Thematik der Schreibblockade auf und schloss somit einen zufälligen, die Veranstaltung umrandenden Kreis. Diesmal wird der gescheiterte Versuch der Hauptfigur beschrieben, aus dieser Blockade auszubrechen, indem das Zimmer und das Leben auf- und leergeräumt werden, bis nur noch weiße Wände bleiben. Erst die als verschütteter Rotwein zurückkehrende Farbe ermöglicht jedoch den Wiedereinzug der Kreativität. Diskutiert wurde im Folgenden vor allem das Spiel mit Farben und Leerräumen, insbesondere bezüglich der Notwendigkeit der Farbsymbolik kam es jedoch zu Unstimmigkeiten. Da der Text nie vollständig greifbar werde, könne man als Lesende:r die existenzielle Schreibsituation und die Melancholie der Hauptfigur nachempfinden.
Tauziehen um Platz eins
Per anonymer Zuschauerabstimmung wurde schließlich entschieden, welcher Text den Schreibwettbewerb gewinnt. Dabei kam es jedoch zu einem Gleichstand im Kampf um den ersten Platz, sodass die Stimmen der Lehrredaktion ausschlaggebend wurden. Manuel Stark konnte sich durch den kreativen Ansatz, implizit über das Nicht-Schreiben-Können zu schreiben und einen sympathischen, souveränen Auftritt letztendlich den ersten Platz sichern. Silke Jäger landete knapp dahinter auf Platz zwei, mit einem Text, der dadurch hervorstach, dass er sich mit dem Lesen statt dem Schreiben befasst und mehr als einmal intertextuelle Bezüge herstellt. Platz drei ging an Johannes Vent, der mit seinem selbstreferentiellen, bereits auf den Vortrag ausgelegten Text die Zuhörenden überzeugen konnte. Die drei erhielten neben erneutem Applaus auch Buchgutscheine.
Insgesamt eine gelungene Veranstaltung – insbesondere, dass vier von fünf Verfasser:innen ihre Texte selbst vorgetragen haben, hat dem Abend eine persönlichere Note verliehen. Bei einem Thema wie „Zufall“ hätte man mit mehr lustigen, fröhlichen Einreichungen rechnen können, aber die Zuhörenden ließen sich mit andächtigem Schweigen auch auf die überraschende emotionale Schwere der Texte ein. Die Lehrredaktion konnte nach der Veranstaltung ein positives Resümee ziehen. Der Schreibwettbewerb, der in diesem Semester erstmals organisiert wurde, hat gezeigt, wie Literaturvermittlung (im kleinen Rahmen) funktionieren kann und dass Uni nicht immer trockene Theorie in staubigen Seminarräumen bedeuten muss.
Bilder mit freundlicher Genehmigung von Felix Matzner
ist 2000 nahe Zürich geboren. Studiert Literaturvermittlung in den Medien.
War zwei Jahre lang bei PHILIPP aktiv und von April 2023 bis November 2024 Chefredakteurin. Hat am liebsten Protokolle und FSK-Berichte geschrieben.
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