Rostiger Nagel #1: Der deutsche Rechts-Staat
In Kassel, also eine knappe Autostunde von Marburg entfernt, ist der Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet worden. Nicht von einem verfeindeten Nachbar, einem Mafia-Handlanger oder einem japanischen Auftragskiller aus dem sechsten Sequel einer mäßig erfolgreichen Actionfilm-Reihe. Sondern von einem Nazi.
Also nicht so ein Nazi aus den Geschichts-Dokus, die nachts auf N24 laufen, oder einer, der in Inglorious Bastards von Brad Pitt gejagt wird. Sondern ein ganz realer Mensch, der im Jahr 2019 in Deutschland lebt. Der hier auf der Straße spaziert, einen Bausparvertrag hat und beim Aldi um die Ecke einkaufen geht. Der, obwohl er in der Vergangenheit schon mehrfach hasserfüllt und gewalttätig gegen Migranten vorgegangen ist, nicht in einem Gefängnis saß oder auf Bewährung war. Der, obwohl er enge Kontakte zum terroristischen Netzwerk „Combat 18“ hatte, nicht von den Behörden observiert wurde.
Leider ist das nicht das erste mal, dass in Deutschland nach 1945, also nachdem jeder dachte, dass die ganze Scheiße endlich vorbei ist, Menschen von Nazis umgebracht wurden. Die letzten Male, als das hierzulande geschah, und der „NSU“ mehr oder weniger ungehindert 10 Menschen tötete, bezeichneten viele Medien das als „Dönermorde“. Also genau in der entmenschlichenden Sprache, mit der auch AfD & Co heute versuchen, den öffentlichen Diskurs nach rechts zu verschieben. Wie nennen Tageszeitungen eigentlich die Tötung eines „biodeutschen“ CDU-Politikers? Vielleicht „Kartoffelmord“, oder „Bratwurstmassaker“? Vielleicht würden diese kulinarischen Euphemismen wenigstens verdeutlichen, dass nicht nur Ausländer oder Dunkelhäutige zum Feindbild von Rechtsradikalen gehören, sondern dass in einer Gesellschaft, in der diesem Treiben kein, oder wenn nur sehr zögerlich Einhalt geboten wird, jeder Nicht-Nazi, vom transsexuellen Schwarzafrikaner bis zum konservativen, weißen Lokalpolitiker, zur Zielscheibe werden kann. Und dass unser Staat, allen voran der schon nach dem Krieg durch Ex-NSDAP’ler besetzte Verfassungsschutz, in den letzten Jahrzehnten „auf dem rechten Auge blind“ war, wie es so schön heißt, ist mittlerweile fast schon eine Untertreibung. Wenn wir mal bei der Analogie bleiben, ist der VS eher ein dressierter Zyklop. Mit dem Unterschied, dass dieses wunderliche Wesen in den letzten Jahren nicht von einer liebenswürdigen Fantasy-Gestalt wie Hagrid, sondern von einem 56-jährigen Mann, der immer noch die gleiche Brille wie der 4-jährige Harry Potter trägt, gehalten wurde.
Von der analogen Filterblase, in der sich die meisten Marburger Studierenden, ich wahrscheinlich eingeschlossen, aufhalten, und welche Facebook-User mit Chico-Profilbild und Mitgliedschaft in der geschlossenen Gruppe „Deutsche Patrioten gegen Asylbetrüger“ wahrscheinlich als „links-grün-versifft“ bezeichnen würden, ist so etwas gefühlt so weit entfernt wie Hans-Georg Maaßen von der Mitgliedschaft in einer Chemnitzer Antifa-Ortsgruppe. Und trotzdem ist sie da: die Realität, dass Nazis im heutigen Deutschland wieder morden und dafür von der Welt-Kommentarspalte beklatscht und von einer durch Millionen gewählten Bundestagsfraktion verharmlost werden.
Und jenen, die immer wie die Aufziehpuppen „Aber die Linken“ schreien, sobald es um rechtsradikale Gewalt geht, sei es ans Herz gelegt, einmal ihre Mitmenschen, zum Beispiel den türkischstämmigen Nachbarn, die ehrenamtliche Ortsbürgermeisterin oder den homosexuellen Bekannten, zu fragen, von welcher Seite sie sich denn eher bedroht fühlen. Und sich zu fragen, ob das andauernde Relativieren von menschenverachtender Ideologie und die Gleichsetzung ermordeter Menschen mit abgefackelten Autos wirklich die Rolle ist, die man in dieser Debatte einnehmen will.
FOTO: Pexels
