Carlos‘ Fehler?
Marburg kann eine wunderbar politische Stadt sein. Im Januar protestierten hier 3.500 Menschen gegen die rechtspopulistische Pegida-Bewegung, der Marktfrühschoppen wurde in diesem Jahr durch eine interreligiöse Kulturveranstaltung ersetzt und in den letzten Monaten war die die Hilfsbereitschaft für die in Cappel untergebrachten Flüchtlinge überwältigend. Die Stadt präsentiert sich nach außen gern als weltoffen, tolerant und bunt. Auf viele Marburger*innen trifft das auch sicherlich zu. Vor diesem Hintergrund erscheint allerdings das, was dem Studenten Carlos Eduardo Muñoz Bianchi in ebendiesem Marburg passiert sein soll, umso unfassbarer.
Eigentlich wollte Carlos Eduardo Muñoz Bianchi am Morgen des 19. August nur nach Hause gehen. Der 24-jährige Student der Politikwissenschaften kommt aus Venezuela und wohnt seit 2009 – mit Unterbrechungen – im Marburger Studentendorf. Die Nacht hatte Carlos bei einem Freund verbracht, sie hatten geredet, Bier getrunken, das studentische Leben genossen. Zwei Tage später wird Carlos über diesen Morgen sagen: „Ich wurde wie ein Verbrecher behandelt.“ Carlos‘ Fehler? Dass er seinen Haustürschlüssel bei seinem Freund vergessen hatte? Dass er sich zu leicht provozieren ließ? Vielleicht auch bloß seine Hautfarbe?
Ein Mitarbeiter des Studentenwerks, der im Studentendorf als Hausmeister tätig ist, fragte Carlos vor seiner Haustür, was er im Studentendorf mache. Carlos sagt: Er feindete ihn an, unterstellte ihm, dort nicht zu wohnen und dort auch nichts zu suchen zu haben. „Und dann hat er mir etwas gesagt, ganz leise: Neger.“ Das Studentenwerk sagt: „Unser Mitarbeiter hat sich korrekt verhalten, indem er dem Studierenden den Hauszutritt verweigerte, weil dieser weder Schlüssel hatte noch seine eigene Zimmernummer benennen konnte.“ Gegen die rassistischen Anschuldigen verwehrt sich das Studentenwerk in einer offiziellen Stellungnahme gegenüber PHILIPP.
Festnahme vor der eigenen Haustür
Die Situation schaukelt sich auf, Stimmen werden lauter, Carlos – aufgebracht, provoziert, hilflos – schlägt dem Mitarbeiter des Studentenwerks schließlich mit der flachen Hand auf den Mund. „Ich wollte nur, dass ihm das, was aus seinem Mund kam, weh tut“, versucht Carlos sein Verhalten später zu erklären. Zwei weitere Mitarbeiter des Studentenwerks kommen dazu und drücken Carlos zu Boden. Dieser beteuert, ruhig zu bleiben und auf die Polizei zu warten, die dann auch gerufen wird. Trotz mehrerer Hinweise, dass er Schmerzen habe, lassen die beiden Männer nicht von ihm ab. Auf dem Klingelschild hinter ihnen steht Carlos‘ Name. Soweit Carlos‘ Schilderung der Vorfalls. „Es war ein Angriff des vermeintlich alkoholisierten Studierenden mittels körperlicher Gewalt, der nur durch den Eingriff weiterer Kollegen und der Polizei zu beenden war, mit dem Resultat, dass der betroffene Mitarbeiter im Klinikum behandelt werden musste und nun arbeitsunfähig ist.“ Soweit die Schilderung des Studentenwerks.
Carlos wird von der Polizei noch vor seiner Haustür festgenommen. Ihm werden Hand- und Fußfesseln angelegt. Auf der Wache bleibt Carlos achteinhalb Stunden in der Ausnüchterungszelle. Ein Alkoholtest wird nicht durchgeführt. Carlos erhält weder eine Erklärung für seine Festnahme noch wird er zu seiner Version des Vorfalls befragt. Telefonieren darf er nicht. „Das Schlimmste war das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden“, sagt er. Als er davon erzählt, wirkt Carlos sichtlich nervös.
Sichtbare und unsichtbare Spuren des Vorfalls
Am nächsten Tag sind Carlos die Spuren der Festnahme deutlich anzusehen: Schürfwunden an Ellenbogen und Beinen, Quetschungen an den Handgelenken, wo die Handschellen eingeschnitten haben, ein handtellergroßes Hämatom am Arm, ein roter Striemen über den ganzen Rücken. „Ich kann nicht einmal Schuhe anziehen“, erzählt er. Seine Verletzungen hat Carlos am Tag nach dem Vorfall von einem Arzt dokumentieren lassen. Hinzu kommen aber weitere, existenzielle Sorgen: Das Studentenwerk hat seinen Mietvertrag einen Tag nach dem Vorfall außerordentlich fristlos gekündigt. Vier Tage hat Carlos Zeit, seine Wohnung im Studentendorf zu räumen. Die Begründung: Er habe den Mitarbeiter „körperlich verletzt und auf das Übelste beleidigt“.
Gleichzeitig wird ein Hausverbot für alle Einrichtungen des Studentenwerks ausgesprochen. „Eventuelle Schadensersatzansprüche, wie etwa Schmerzensgeld oder Lohnfortzahlung, werden wir gesondert geltend machen“, schreibt das Studentenwerk in der Kündigung weiter. Carlos‘ Gefühle schwanken im Moment zwischen Enttäuschung und Erstaunen: „Dass es überall auf der Welt dumme Menschen gibt, weiß ich, aber wie sich das Studentenwerk jetzt verhält, verwundert mich schon sehr.“ Warum ihm so etwas passiert ist, kann sich Carlos nicht erklären. „Ich kenne den Mitarbeiter des Studentenwerks nicht, sehe ihn aber täglich, weil er sein Büro im Gebäude hat“, erzählt er. Er sei sicher, dass der Mitarbeiter ihn auch schon oft im Studentendorf gesehen habe. „Ich habe das Gefühl gehabt, dass er mich provozieren wollte.“
Studentenwerk zeichnet anderes Bild
Auf eine zweite Ebene kommt Carlos‘ Geschichte durch seinen Freund Jan Hendrik Holtfester, dem er sich nach dem Vorfall anvertraut. Jan lebt seit fünf Jahren in Marburg, hat hier studiert und arbeitet inzwischen in der Mandantenbetreuung einer Anwaltskanzlei mit Sitz in Erfurt und Berlin. Um seinem Freund zu helfen, meldet sich Jan telefonisch beim Studentenwerk und versucht, den Vorfall aufzuklären. Dass er dabei nicht im Namen der Kanzlei, sondern als Carlos‘ Freund handelt, stellt Jan seiner Aussage nach sofort klar.
Das erste Gespräch führt Jan mit dem Leiter für studentisches Wohnen des Studentenwerks, der auch die fristlose Kündigung unterzeichnet hat. Dieser zeichnet laut Jan ein anderes Bild von dem Vorfall im Studentendorf: Den Mitarbeiter des Studentenwerks habe es sehr schwer getroffen, er sei von Carlos attackiert und schwer beleidigt worden. Carlos sei wohl an diesem Morgen „komplett betrunken und auf Drogen“ gewesen. Er habe nach dem Vorfall mehrmals mit dem betroffenen Mitarbeiter telefoniert. Dass die Auseinandersetzung einen rassistischen Hintergrund hat, ist ihm nicht bekannt. Auf eine schriftliche Anfrage hin würde das Studentenwerk dazu aber eine Stellungnahme verfassen.
„Die Ethnizitäten nennen sich doch auch untereinander so“
Zur weiteren Aufklärung wird Jan seinen Schilderungen nach an den direkten Vorgesetzten des betroffenen Mitarbeiters verwiesen. Es kommt zu einem zweiten Gespräch, in dem Jan seiner Aussage nach erneut den Vorwurf des Rassismus als Hintergrund der Auseinandersetzung anspricht. Die Antwort des Vorgesetzten laut Jan: „Die Ethnizitäten nennen sich doch auch untereinander so.“ Laut Studentenwerk: „Unser Mitarbeiter hat sich gegenüber dem Bekannten, der den Studierenden rechtlich berät, nachweislich nicht zum Sachverhalt geäußert.“ Das Verhalten des Studentenwerks macht Jan wütend. Auch wenn Carlos überreagiert habe, indem er gegenüber dem Mitarbeiter handgreiflich wurde, sei Rassismus durch nichts zu rechtfertigen. Dem Studentenwerk sei überhaupt nicht bewusst, welcher Fehler von ihrem Mitarbeiter begangen worden sei: „Dass in einem Studentenwohnheim, in dem zu einem Großteil ausländische Studierende wohnen, ein Mitarbeiter einem Bewohner den Begriff ‚Neger‘ an den Kopf klatscht.“ Solche Leute könne man nicht beschäftigen, findet Jan.
Darauf angesprochen, dass Rassismus und Faschismus in Marburg – glücklicherweise – nicht gern gesehen werden, erwiderte der Vorgesetzte laut Jan zudem: „Wenn die Geschichte an die Presse gerät, wird es für alle Parteien ganz unschön enden.“ Das Gefühl, dass das Studentenwerk dem Vorwurf von sich aus aktiv nachgehen wird oder gar mit einer Reaktion zu rechnen ist, hatte Jan nach dem Gespräch aber nicht. „Ich würde mir wünschen, dass der Mitarbeiter zu den Vorwürfen befragt wird und die Anschuldigungen ernst genommen werden“, sagt er.
…wie es weiter geht
Wie jedes Ereignis wird auch Carlos‘ Geschichte – je nach Blickwinkel und befragtem Personenkreis* – anders erzählt. Auffällig ist jedenfalls, dass die Schilderungen von Carlos und Jan auf der einen Seite und dem Studentenwerk auf der anderen Seite in entscheidenden Punkten auseinander gehen. Eine gänzliche Aufklärung wird – wenn überhaupt – wohl erst in den kommenden Wochen möglich sein. Geplant ist, auch das Bettenhaus in die kommende Diskussion zu involvieren. PHILIPP wird weiterhin berichten.
Schön ist – besonders vor dem Hintergrund dieser Geschichte – allerdings auch immer, wenn Vorurteile anderer Art widerlegt werden können: Da Carlos so schnell keine neue Wohnung finden konnte, hat ihm die Turnerschaft Schaumburgia bereits ein Zimmer angeboten, das er in einigen Tagen beziehen kann.
*PHILIPP hat ebenfalls eine Anfrage an die Marburger Polizei gerichtet, die bisher bedauerlicherweise nicht zu einer Stellungnahme im Stande war. Eine Anfrage an die Pressestelle wurde von unserer Seite zuletzt am 21. August um 10 Uhr gestellt.
FOTO: Allie_Caulfield auf flickr.com, CC-Lizenz
Sehr geehrter Herr Fester,
wir haben Ihren Kommentar von unserer Seite entfernt, da er unserer Ansicht nach nicht zum Diskurs beiträgt, sondern hetzerische Tendenzen vertritt. Diesen können und wollen wir keine Plattform geben. Die Art und Weise wie Sie diesen Beitrag kommentiert haben empfinden wir als beleidigend und nicht der Sache dienlich. Daher haben wir Ihren Kommentar entfernt.
Mit freundlichen Grüßen
Nele Hüpper für PHILIPP
Sehr geehrter Herr Fester,
wir haben Ihren Kommentar von unserer Seite entfernt, da er unserer Ansicht nach nicht zum Diskurs beiträgt, sondern hetzerische Tendenzen vertritt. Diesen können und wollen wir keine Plattform geben. Natürlich dürfen Sie auch hier bei PHILIPP frei ihre Meinung äußern. Aber in dem Rahmen, in dem dies von Ihrer Seite aus passierte, empfinden wir es als beleidigend und nicht der Sache dienlich.
Mit freundlichen Grüßen
Nele Hüpper für PHILIPP
Da stimme ich Ihnen zu: Diese kleine Gruppe hat Sie sicherlich nicht gewählt. Aber auch der große Rest der Wähler hat sich von Ihrer, von Eigeninteressen (Abgebranntes Haus, Besuchsrecht Ihrer Verlobten) getriebenen Wahlkampagne anscheinend nicht angesprochen gefühlt. Finde ich, wie gesagt, unverständlich.
Nichtsdestotrotz würde es den Artikel von Frau Rossbach sicherlich würdigen, wenn hier in den Kommentaren über den eigentlichen Sachinhalt anstatt über Nebensätze disktutiert werden würde. Ich werd’s also dabei belassen.
Der zitierte Satz verfälscht die Wahrheit und ist daher von der Tragweite her kein Nebensatz!
Die Stadt wollte die angemeldete Demonstration auf dem Marktplatz verhindern,
mit der in der OP genannten Begründung „Religionsfreiheit sei ein hohes Gut“.
Wenn der Mob, der keine Flüchtlinge will, braun ist,
welche Farbe hat dann der Mob, der kein Besuchsvisum für meinen Schatz will?
„der Marktfrühschoppen wurde in diesem Jahr durch eine interreligiöse Kulturveranstaltung ersetzt“
Das bestreite ich.
Damit sollte nur verhindert werden, daß eine politische Demonstration stattfindet, auf der ich die Visapraxis angeprangert hätte und den „weltoffenen“ Politikern das nichtvorhandene Besuchsvisum für meinen Schatz um die Ohren gehauen hätte.
Und niemand versteht, warum Sie nicht Oberbürgermeister geworden sind…
Die antisemitischen und ausländerfeindlichen unter den Wählern wollten mich halt nicht.
Das ist eben Demokratie.