Deutsche Literatur und Kunst im Exil – Uwe Wittstock liest aus „Marseille 1940“

Bild: L. Schiller
Was haben eine Gruppe berühmter Schriftsteller*innen auf der Flucht über die Pyrenäen, verbrannte Ausweispapiere und eine Künstler-Villa mit surrealistischen Gemälden an den Bäumen gemeinsam? Sie alle sind Teil der bewegenden Fluchtgeschichten deutscher Exilant*innen in Frankreich, die Uwe Wittstock in seinem Sachbuch Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur erzählt. Die vorgestellten Schriftsteller*innen und Künstler*innen flohen während des zweiten Weltkrieges aus Nazi-Deutschland und fanden in der südfranzösischen Stadt Marseille Zuflucht.
Das Interesse an der vom Marburger Literaturforum organisierten Lesung des Buches ist groß. Uwe Wittstock, der bereits zahlreiche Werke über die deutsche Literaturgeschichte veröffentlichte, beschreibt zu Beginn kurz, dass die Inspiration für das Buch während der Recherche zu einem früheren Werk entstand. In diesem setzte er sich intensiv mit den Auswirkungen der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf deutsche Schriftsteller*innen auseinander. Da viele von ihnen ins Exil gingen, stellte sich ihm die Frage, wohin diese Menschen flohen. Marseille, das aufgrund der hohen Zahl deutscher Exilant*innen ein zentraler Schauplatz wurde, wählte er schließlich als Fokus seines neuen Buches aus.
Der Vorstoß der Wehrmacht und die Massenflucht nach Süden
Wittstock beginnt die Lesung mit der Ankündigung, dass er zunächst kurz die “unangenehme Rolle, hier als Geschichtslehrer aufzutreten” übernimmt. Der Angriff der deutschen Wehrmacht auf Frankreich und dessen Wirkung auf die deutschen Exilant*innen wird anhand von anschaulichen Karten- und Bildmaterial rekapituliert. Eine besondere Betonung legt der Autor dabei auf die Schnelligkeit des Vorstoßes der Wehrmacht, welche nach dem Beginn des Angriffes im Mai 1940 bereits im Juni des gleichen Jahres Paris erreichte. In der dadurch ausgelösten Massenflucht befanden sich neben französischen Bürger*innen auch viele deutsche Exilant*innen, die sich aus Angst vor der Gestapo auf den Weg in den Süden des Landes machten. Wittstock schildert zunächst die Flucht deutscher Exilant*innen aus Paris nach Marseille, bevor er auf ihren Aufenthalt dort und schließlich auf die Wege ins Ausland eingeht. Das Buch erzählt die verschiedenen Handlungsstränge der Schriftsteller*innen und Künstler*innen dabei in „einzelnen Etappen“ und folgt einem streng chronologischen Aufbau.
Der gefährliche Weg nach Marseille
Die erste Stelle, die Wittstock an diesem Abend vorliest, findet noch nicht im titelgebenden Marseille statt, sondern beschreibt die Flucht der Schriftstellerin Anna Seghers. Zusammen mit ihren beiden Kindern ist sie aus einem Pariser Vorort zu Fuß vor den sich nähernden deutschen Truppen nach Südfrankreich unterwegs. Als Jüdin und Kommunistin ist ihr bewusst, dass die Gestapo nach dem Einzug in Frankreich nach ihr suchen wird. Gleich in dieser ersten vorgelesenen Stelle wird eine der großen Stärken des Buches deutlich: Wittstock schafft es die Erlebnisse von Seghers so eindrucksvoll und nahbar zu schildern, dass man fast vergisst, die Lesung eines Sachbuches zu hören. Die verlassenen „Geisterdörfer“ und das Chaos, auf den mit fliehenden Menschen überfüllten Landstraßen wird ausführlich beschrieben. Auch die für Anna Seghers und ihre Kinder körperlich und mental sehr anstrengende Flucht, während der sie „in Todesangst ihre Papiere verbrennt“, stellt Wittstock sehr einfühlsam dar.
Ein Netzwerk der Fluchthilfe
Im nächsten Teil der Lesung stellt der Autor dann eine zentrale Person seines Buches vor – den Fluchthelfer Varian Fry. Der US-Amerikaner, der mit seiner Hilfsorganisation vielen bedeutenden deutschen Schriftsteller*innen und Künstler*innen die Flucht aus Europa ermöglichte, ist laut Wittstock in Deutschland dafür immer noch zu wenig bekannt. Mit Spendengeldern aus den USA finanzierte Fry ein Büro in Marseille für seine Organisation “Centre Américain de Secours”, von dem aus die aufwendigen und teuren Fluchten der Exilant*innen ermöglicht werden konnten. In Frankreich arbeitete er dafür mit verschiedenen Helfer*innen zusammen, die durch das Ausstellen von Visa oder falschen Papieren, organisatorische Mitarbeit und die Begleitung von Flüchtlingen über die Pyrenäen die Organisation unterstützten. Einer seiner amerikanischen Mitarbeiter heiratete innerhalb von drei Monaten sechs jüdische Frauen aus französischen Internierungslagern, um ihnen die amerikanische Staatsbürgerschaft und damit die Möglichkeit zur Ausreise aus Frankreich zu geben. Nach der Ankunft der Frau in Spanien, ließ er sich schnell scheiden, um erneut eine Jüdin aus dem Lager retten zu können.
Die beschwerliche Flucht über die Pyrenäen
Das nächste Kapitel, das Wittstock vorliest, schildert eine Flucht nach Spanien, bei der viele bekannte deutsche Persönlichkeiten zusammen unterwegs waren. Gemeinsam mit dem Fluchthelfer Varian Fry versuchten Golo, Heinrich und Nelly Mann, Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel zunächst mit dem Zug über die spanische Grenze zu reisen. An diesem Tag verweigerte der französische Kommissar den Flüchtlingen aufgrund fehlender Ausreisevisa die Durchreise und empfahl ihnen stattdessen, so schnell wie möglich zu Fuß über die Berge zu fliehen. Wittstock erzählt humorvoll, wie der abergläubische Franz Werfel aufgrund des Datums – einen Freitag, den 13. – fragte: „Sollen wir nicht lieber bis morgen warten?“. Die Gruppe entschloss sich dann aber doch, den etwa acht Kilometer langen, steilen Weg in der sommerlichen Hitze am selben Tag zurückzulegen. Fry kaufte vor der Reise mehrere Packungen Zigaretten, die von der Gruppe an die spanischen Zollkontrollen verteilt wurden, um die Durchreise zu ermöglichen. Nach einem körperlich anstrengenden Fußmarsch, der besonders die älteren Flüchtlinge viel Kraft kostete, konnten sie aber alle Spanien erreichen. Aufgrund der zunehmenden Kontrollen suchte sich Frys Organisation nach dieser Überquerung der Grenze eine neue Fluchtroute über die Pyrenäen.
Eine surrealistische Kunstausstellung in Marseille
Das letzte Kapitel, aus dem Wittstock vorliest, thematisiert das künstlerische Leben der Exilant*innen in Marseille. Es beginnt mit der Ankunft des Künstlers Max Ernst in der Villa “Air Bel”, in der die Helfer*innen um Varian Fry und viele der Exilant*innen bis zu ihrer Flucht ins Ausland lebten. Die Künstler*innen, die in Marseille festsaßen, betätigten sich dort weiter kreativ. Besonders Max Ernst “hat in Bel Air ununterbrochen gemalt”, sodass die Hausbewohner*innen sogar eine Ausstellung seiner geschaffenen Werke organisierten. Wegen Platzmangels reichte die Fläche an den Wänden der Villa nicht für all seine surrealistischen Bilder aus, und einige wurden daher an den Platanen im Garten aufgehängt. Bei einer kleinen Feier zur Eröffnung der Ausstellung gab es aufgrund der schlechten Versorgungslage nur Wein, aber die Stimmung unter den anwesenden Bewohner*innen und lokalen Künstler*innen war dennoch ausgelassen. In dieser Zeit wurde Bel Air auch zu einem Treffpunkt der französischen Avantgarde, an dem viele Künstler*innen zusammenfanden.
Abschließendes Gespräch mit dem Autor
Im abschließenden Gespräch mit Uwe Wittstock wird noch einmal deutlich, was schon während der ganzen Lesung deutlich geworden ist: Der Autor hat sich intensiv mit den Ereignissen auseinandergesetzt und ein einfühlsames Buch mit eigener erzählerischer Kraft und vielen kleinen interessanten Details geschrieben. Er beschreibt selbst, dass es sein Ziel war, ein Buch zu verfassen, das „so erzählerisch wie möglich, aber immer an alle Fakten gehalten“ ist. Dank seiner gründlichen Recherche in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und in Marseille konnte Wittstock jede einzelne Geste und jedes Wort aus den Erinnerungen der Zeitzeugen ableiten. Aufgrund seiner tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Thema kann er zu jeder Frage spannende historische Anekdoten erzählen. Zum Abschluss der Lesung präsentiert er noch einmal selbstgemachte Bilder des Büros von Varian Fry und der Villa Bel Air im heutigen Marseille. Die Mischung aus lebendiger Darstellung, fundierter Recherche und weniger bekannten, aber dennoch faszinierenden historischen Details kommt beim Marburger Publikum gut an. Diese Qualitäten machen sowohl die das Buch von Uwe Wittstock sehr empfehlenswert – besonders, für alle die sich für deutsche Literatur- und Kunstgeschichte begeistern.