Lesung mit Humor und Tränen: Nachtbeeren von Elina Penner

Lesung mit Humor und Tränen: Nachtbeeren von Elina Penner

Credit: Laura Bonnet

„Worüber wirst du schreiben, über dein trauriges Leben? – Von dieser Art Reaktion zu ihrem anfänglichen Schreiben erzählt die Autorin Elina Penner. Sie nimmt das jedoch mit Humor und lässt es als lustige Anekdote in ihre Lesung einfließen. Ihr Debütroman Nachtbeeren erzählt zwar von ernsten Familienproblematiken innerhalb der Russland-Deutschen Community, doch hält das die Autorin nicht davon ab etwas Witz sowohl in ihren Roman als auch in ihre Lesung einzubringen, denn: „Humor ist auch Trauerbewältigung“, sagt Penner. Dadurch wird bereits der humorvoll-bittere Ton angeschnitten, der ihre Veranstaltung am 10.03. in Marburg bestimmt hat.

Die Lesung fand innerhalb der neuen Reihe Narrative um Weiblichkeit, Selbstbestimmung und Mutterschaft – ein Diskurs zwischen Literatur, Medien und Wissenschaft des Marburger Literaturforums statt. PHILIPP war für euch dabei und verrät euch, was die giftigen Nachtbeeren, die für Mennoniten eine kleine Köstlichkeit darstellen, mit eurem Studi-Leben zu tun haben.

Leben ohne Erinnerungen 

Zur zweiten Lesung innerhalb der Reihe wurde PHILIPP vom Literaturforum direkt eingeladen. Im Rathaussaal in Marburg war Elina Penner mit ihrem Debütroman Nachtbeeren zu Gast. Die Moderatorin Romy Traeber stellte die Autorin kurz vor: Penner, gebürtige mennonitische Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion, lebt in Ostwestfalen war aber auch schon in den USA ansässig. Im September dieses Jahres erscheint ihre Essay-Sammlung. Ihr Blog Hauptstadtmutti ist bereits in aller Munde. Penner erzählt selbst, dass sie das Puzzeln bei Schreibblockaden oder gegen das wohl bekannte ‚doomscrolling‘, also das sinnlose Durchscrollen auf sozialen Plattformen, sehr empfehlen kann.

Das Buch hat sie im ersten Lockdown geschrieben, im Januar 2020 begann sie und schrieb sich in einen solchen Sog, sodass das erste Manuskript bereits viereinhalb Monate später fertig war. „Im Lockdown fühlte man sich wie in einem Vakuum, ich habe fast jeden Tag geschrieben“, meinte Penner. Diese Schnelligkeit zeigte sich ebenfalls in dem Leseverhalten der Rezipierenden. Immer wieder bekommt die Autorin das Feedback, dass man ihr Buch so wunderbar schnell ‚runter lesen‘ könne. Ganz andere Reaktionen bekommt sie von Leuten mit Zuwanderungsgeschichte, die ähnliche Erlebnisse, wie die im Roman beschriebenen, hatten: „Menschen mit Migrationshintergrund müssen es nach einem Kapitel weglegen, die kleinsten Dinge tun schon weh.“ Der Roman erzählt die Geschichte von Nelli, die als kleines Mädchen mit ihrer Familie von Russland in das nordrhein-westfälische Minden auswandert. Als Russlanddeutsche kommt ihr das neue deutsche Leben fremd vor und sie verliert sich mehr und mehr nach dem Tod der geliebten Oma. Sie sucht Halt in einer mennonitischen Gemeinde. Mennoniten bilden eine evangelische Freikirche, für ihren Glauben und ihr Leben ist die Bibel zentral. Sie vertreten ein großes Engagement für Frieden und Gewaltfreiheit und zählten zur Gründungszeit zum ‚radikalen‘ bzw. zum linken Flügel der Reformation durch Luther. Als Nelli schwanger und ihr Sohn Jakob geboren wird, will sie die vorherigen Generationszyklen stoppen. „Es geht viel ums Erinnern, an ein Leben, an das man sich nicht erinnern kann, da man umgesiedelt ist“, beschreibt Penner ihren eigenen Roman. 

„Ja, die Beeren gibt es wirklich!“

Die Autorin liest den Prolog vor, in dem es um die titelgebende Nachtbeere geht. „Nachtbeeren sind giftig. Mennoniten essen sie trotzdem“, heißt es in der ersten Zeile. Als Penner diesen Fakt im Bio-Unterricht gelernt hat und ihre Mutter damit aufgebracht konfrontierte, meinte diese nur: „Bist du tot?“ Eine fast manische Aufzählung der verschiedenen Namen dieser Beere folgt, die zu viel Gelächter beim Publikum führte. Das Wichtigste über Nachtbeeren macht die Autorin aber in den letzten Zeilen deutlich: „Sie sind da. Sie sind nicht kaputt zu kriegen, und sie kommen immer wieder.“ Dieser Prolog hat nicht nur bei der Lesung in Marburg für Eindruck gesorgt, sondern, laut den Erzählungen Penners, auch bei anderen Veranstaltungen, da viele diese Beere nicht zu kennen scheinen. Ein Landwirt brachte sogar einmal einen großen Strauch Nachtbeeren mit, um ihn der Autorin zu präsentieren. Eine der häufigsten Fragen bei ihren Auftritten dreht sich daher nicht um tiefgreifende Traumata, sondern darum, ob diese starke, kleine, schwarze Beere tatsächlich existiert. Die Antwort lautet immer: „Ja, es gibt sie wirklich, man braucht viel Zucker für sie.“

Diese Lesung legt ein paar Grundthemen für die kommende Lektüre offen und auch wenn man den Roman vorab nicht gelesen hat, erhält man in Penners ersten kurzen, vorgelesenen Zeilen bereits einen guten Eindruck davon, welche Thematiken den Roman bestimmen werden. Selbst wenn das Leben, ähnlich dem „Beton in Berlin“, wie es im Buch heißt, noch so hart ist, überlebt man. Es wird weiter gemacht, auf gutem oder schlechtem Wege, wie es die Nachtbeere tut. Das Zubereiten der Nachtbeeren ist es auch, was subtil auf das Thema des „Hungertraumas“, wie die Autorin es nannte, anspielt. Die endlos scheinenden Vorräte an Essen bei Nellis Oma, löst das Nachdenken über dieses tiefsitzende Trauma aus. Viele Passagen, die Penner für die Lesung ausgewählt hat, handeln davon, wie Nelli bei Kaffee und Kuchen mit ihrer Familie in Erinnerungen schwelgt, wie sie sich im Supermarkt über Menschen aufregt, die nur eine Packung Milch kaufen oder über die wahre Funktion von Vorratskammern nachdenkt. Diese Ausschnitte werden von der Frage, die die Autorin bei der Lesung stellte, begleitet: „Dürfen wir jemals satt sein? Wir müssen Jahre des Hungerns satt essen.“ Kapitel wie Einkaufen, in denen dieses Hungertrauma ganz präsent ist, lassen einen über das eigene Einkaufverhalten nachdenken: Wann war ich das letzte Mal ohne Plan einkaufen und habe wirklich nur eine Packung Milch mitgenommen? Schmeiße ich zu oft etwas weg, obwohl ich noch gar nicht satt bin? 

Ein Roman über das Schweigen

Der nie ausgehende Kaffeevorrat bei Nellis Familienbesuchen ist es, was zu einem Thema des Romans überleitet, das vor allem junge Menschen kennen dürften, nicht nur diejenigen aus mennonitischen Gemeinden: das Schweigen innerhalb der Familie. Die Autorin erklärte überraschend, dass sie sich weniger mit ihrer Hauptfigur Nelli identifizieren könne als mit Eugen. Der Bruder von Nelli ist queer, zog wegen seines Studiums nach Hamburg und lernt dann eine andere Gesellschaftsschicht kennen. Dadurch hat er einen ganz anderen, reflektierteren Blick auf seine Familienkonstellationen und fängt an, diese zu hinterfragen. Auf die Kritik von der Moderation, dass er durch sein Weggehen viel Mist gebaut hat, setzte Penner zu einer kleinen Verteidigung für Eugen an: „Er musste da raus, um sich selbst zu schützen. Aber niemand kommt in dem Roman gut weg.“ Die Erlebnisse von Eugen erinnern stark an Erfahrungen, die wohl auch viele Studis gemacht haben: weit weg von der Familie ziehen, zurückkommen und die eigenen Familienverhältnisse ganz anders wahrnehmen. Er wirkt wie ein Sprachrohr für Studierende.

Penners Roman wirft die relevante Frage auf: Wie oft schweigen sich Familien an? Es wird bei Schmerz und Leid zugesehen, aber nichts gesagt. Auf die Frage, ob es in dieser Hinsicht durch den Roman einen Lernprozess in Penners Mennoniten-Community gibt, lachte die Autorin nur: „Leute mögen keine Konfrontationen.“ Neben bösen Amazon-Rezensionen gibt es aber auch WhatsApp-Gruppen, in denen Rezipierende des Buches rauf und runter diskutieren, worüber sich die Autorin sehr freut – mit ihrem Roman Gespräche anzuregen, das sei ja das Ziel. Die Lesungen zu Nachtbeeren sind meistens sehr emotionale, erzählte Penner. Viele Zuhörende, die jünger als 50 Jahre alt sind, weinen und diejenigen über 50 fühlen sich meist durch den vorgehaltenen Spiegel beleidigt. Wie nah der Autorin ihr Roman selbst geht, zeigte sich in ihrer Antwort auf eine Frage aus dem Publikum: „Warum kommen keine Eltern darin vor?“ Zum einen wollte sie einen ‚Mennoniten-Millennial‘-Roman schreiben, da genau diese Generation meistens kein Mitspracherecht hatte, zum anderen aus dem einfachen Grund, weil die Eltern ständig arbeiten waren. Ihre Mutter hatte vier Putzjobs: „Alle Frauen, die ich kenne, haben geputzt.“ Hier kamen der Autorin schließlich selbst die Tränen. Details aus der eigenen Kindheit, hat sie zum Teil erst durch Interviews, die mit ihren Eltern wegen des Romans geführt worden sind, erfahren. Hier wurde deutlich, wie weit Schweigen gehen kann.

Durch das Schweigen sprach sie auch ein zentrales gesellschaftliches Thema an, dass nicht nur in ihrer Community ein zunehmendes Problem darstellt: Auch wenn es in der Veranstaltungsreihe vermehrt um Weiblichkeit geht, erwähnte Penner die toxische Maskulinität, unter der auch die männlichen Charaktere in ihrem Roman leiden. „Die Suizidrate ist bei Männern viel höher, meine Eltern sind sehr oft auf Beerdigungen, da sich die Männer gerne aufhängen“, berichtet die Autorin aufgebracht. Für mich als Zuhörerin war es verwirrend, aber gleichzeitig auch faszinierend, mit so vielen verschiedenen Thematiken innerhalb einer einzigen Lesung konfrontiert zu werden. Der Roman vermischt all diese Themen mit Humor und einer Prise Krimispannung und kann auch ohne Vorwissen bei einer Lesung überzeugen.

2023: Stimmen zu Mutterschaft, Weiblichkeit und Körperschaft werden laut

Dieses Jahr startete im Februar die neue Veranstaltungsreihe des Marburger Literaturforums. Hier lädt der Verein über das Jahr verteilt verschiedene Gegenwartsautorinnen ein. Neben Elina Penner sind Schriftstellerinnen wie Mareike Fallwickl oder Sarah Diel dabei, um den Stimmen der Gegenwartsliteratur zu Themen wie Mutter-Sein, Weiblichkeit in Verbindung mit Körperschaft und Selbstbestimmung einen Raum zu bieten. Neben klassischen Lesungen finden auch Vorträge von der Psychotherapeutin und Honorarprofessorin Helga Krüger-Kirn statt, die zu Weiblichkeitskonzepten forscht und den gesellschaftlichen Umgang mit diesen beobachtet. „Ihre Perspektive auf die Konjunktur der Thematiken um Mutterschaft beispielsweise bereichert die Reihe aus wissenschaftlicher Sicht“, wie die erste Vorsitzende Friederike Wissmach PHILIPP im Interview erzählt. Durch solche Ergänzungen können weitere Perspektiven und neue Debatten entstehen, wie Wissmach weiter anmerkt: Die Vorstellung der Buchreihe Reihe vergessener Autorinnen von Nicole Seifert & Magda Birkmann, die das Literaturforum innerhalb ihrer eigenen Reihe vorstellt, stoße „sehr klug und kritisch die traditionellen Mechanismen in der Literaturbranche an, die bewirken, dass Autorinnen sehr viel seltener die Chance haben, ihre Texte verlegen zu können und in der Literaturkritik angemessen gewürdigt zu werden. Dies berührt natürlich auch die Debatte um die Kanonisierung von Literatur sowie unsere Lesegewohnheiten. Ich denke, dass wir erwarten dürfen, mehr über diese Strukturen zu lernen und so außerdem neue Impulse zu bekommen.“ Was Friederike Wissmach PHILIPP im Interview zu der Reihe erzählt hat, deckt sich auch mit den Einschätzungen von Benita Berthmann, einer Studierenden, die ebenfalls im Literaturforum aktiv ist: Vorträge wie von Krüger-Kirn oder Seifert helfen nicht nur Theorien der Lesungen wissenschaftlich auszuarbeiten, sondern steuern auch dazu bei, die studienspezifischen Interessen von Studierenden abzudecken. 

Empfehlungen für Studis

Wissmach empfiehlt Studierenden innerhalb der Veranstaltungsreihe die Lesung zu Sarah Diehls Roman Die Freiheit allein zu sein und Franziska Schutzbachs Sachbuch Die Erschöpfung der Frauen, sowie den Vortrag von Frau Krüger-Kirn, da sie „für die politische und gesellschaftliche Dimension der Narrative um weibliche Identität sensibilisieren“, erzählt die Vorsitzende PHILIPP. Wer eine außergewöhnliche Entertainerin mit eigensinnigem Ton erleben möchte, ist bei Judith Poznans Lesung genau richtig. Sie behandelt verschiedene Familienmodelle darunter auch das Alleinerziehendsein. Das Thema der (ungewollten) Schwangerschaft findet bei Verena Kessler und Julia Friese eine Stimme. Wissmach bestätigt PHILIPP, dass es innerhalb der Reihe vielseitige Vorträge und Lesungen gebe, die euch neben dem eintönigen Studi-Alltag Abwechslung bieten, denn das „alles können Themen sein, die junge Erwachsene ansprechen“, so die Vorsitzende.

Das vollständige Programm findet ihr hier: https://www.literaturforum-marburg.de/veranstaltungen-reihe-2023

(Lektoriert von let und hab.)

Studiert Literaturvermittlung in den Medien in Marburg.
24 Jahre alt.
Beim PHILIPP seit Januar 2023 innerhalb der Redaktion und Lektorat aktiv.

Hat eine Katze, aber leider auch eine Katzenhaarallergie.

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