Marburger Kamerapreis 2024 – Review Vorreihe: Der Rausch

Marburger Kamerapreis 2024 – Review Vorreihe: Der Rausch

Der diesjährige Marburger Kamerapreis geht an den skandinavischen Bildgestalter Sturla Brandth Grøvlen. Zur Vorbereitung dieser ausschließlich an Bildgestalter*innen verliehenen Ehrung, zeigt das Capitol ausgewählte Filme des Preisträgers. Den Auftakt dieser Reihe bildet Thomas Vinterbergs oscarprämierte Tragikomödie Der Rausch, ein Film über Alkohol und das Aushalten von Zwischenzuständen.

Martin (Mads Mikkelsen) ist ein mittelalter Mann, Vater und Geschichtslehrer. Hauptsächlich ist er jedoch gelangweilt, von sich selbst und seinem Leben. Die versprochenen unendlichen Möglichkeiten der Jugend wichen den konkreten Verpflichtungen einer Familie, einer Beziehung und den Ansprüchen seines Berufs. Doch die Energie für die Bewältigung dieser Realität fehlt ihm. Er steht neben sich. Auf der Geburtstagsfeier seines Freundes Nikolaj (Magnus Millang), ebenfalls – wie alle seine Freunde – Lehrer und gleichsam lebensträge, präsentiert dieser der vierköpfigen Gruppe eine Theorie: Laut dem norwegischen Psychiater Finn Skårderud, sei der Mensch mit 0,5 % Promille zu wenig im Blut geboren worden. Ein Ausgleich dieses Alkoholdefizits, so die nun empirischen Forschungen nachgehende Gruppe, könnte zu positiven Folgen in den Bereichen Selbstwahrnehmung und zwischenmenschlicher Offenheit führen. Sie tasten sich an einen Selbstversuch heran.

Agenten des Alkohols

Das Vorgehen der Vier hat etwas Konspiratives, Intrigantes: Über den Tag hinweg versteckt einen konstanten Alkoholpegel aufrechterhalten, nicht ganz betrunken, aber auch nicht völlig nüchtern. Ein Dazwischen, dass alle positiven Folgen eines Zustands herbeiführt, ohne mit den Nachteilen leben zu müssen. Es ist jedoch auch etwas lächerlich. Männer, die sich zwischen ihren Unterrichtsstunden wegschleichen, um an einer Flasche zu nippen. All das balanciert Der Rausch (org. Druk, 2020) in seinem Ton aus, weil er nicht so tut, als ob es sich dabei um wirkliche Gegensätze handeln würde. Eine durch Alkohol herbeigeführte Ausgelassenheit, in der die Männergruppe miteinander rangelt und in ähnlich pubertär-jugendliche Verhaltensweisen zergeht – eingefangen mit Grøvlens dynamischer Handkamera –, kann sich ekstatisch anfühlen, gerade weil sie auch lächerlich ist. Die Komik entsteht nicht auf Kosten der Figuren, sondern in Absprache mit ihnen, weil sie zu ihrer Glückserfahrung gehört.

Gleichzeitig geht es Vinterberg nicht um eine Verherrlichung des Alkohols oder eine Belehrung über sein Suchtpotential. Das von Vinterberg und Tobias Lindholm verfasste Drehbuch, das ursprünglich für die Bühne geschrieben wurde, widmet sich vielmehr einer Auseinandersetzung mit der Rolle, die Alkohol als gesellschaftlich akzeptierter Optimierungsbrennstoff in einem Leben einnehmen kann. Wäre es nicht ideal, ein Mittel zu besitzen, das mehr von einem besseren Ich herausholt, und das ohne je die Kontrolle darüber zu verlieren? Die Männergruppe verweist da in einer Szene auf Ernest Hemingway und Winston Churchill als alkoholtrinkende Vorbilder, beide einflussreich innerhalb ihres jeweiligen Gebiets, beide auch ausgiebige Trinker. Gesellschaftliche Relevanz mit Alkoholkonsum, politische Kontrolle mit einem Kontrollabbaumittel zu verbinden, erinnert einerseits etwas an unausgereifte Direktkommentare eines mittelmäßigen Theaterstücks, bleibt in Der Rausch aber zum Glück ein dünner Parallelstrang, der das Gesamtgepräge nicht beschädigt. 

Passives Licht

Die Figuren wissen um die Gefahren ihres Versuchs und der Film erhebt ihre Fehler, die sich bei der zunehmenden Länge ihres Experiments einschleichen, nie zu moralischen Lektionen, weil er seine Figuren als solche ernstnimmt und nicht als bloße Objekte behandelt. Ein wichtiger Teil dieser Figurenwahrnehmung ist Grøvlens Kamera. Der Rhythmus aus an Mikkelsens Gesicht klebenden Nahaufnahmen, die ihn häufig stumm reagierend zeigen und seine Passivität unterstreichen, und konventionellen, aber effektiven Schuss-Gegenschuss-Anordnungen erzeugt einen Sog, der die Kamera selbst fast unsichtbar werden lässt. Gebrochen wird diese Regelmäßigkeit, neben der erwähnten unkontrolliert-haptischen Handkamera, durch den Einsatz von Licht. Grøvlen nutzt das fade, manchmal fast schon mehlig wirkende Licht Dänemarks zur Markierung von Martins inneren Verfassung. Die im Hintergrund des Geburtstagsessens in Unschärfe versteckten, kaum Licht spendenden Lampen des Restaurants verhalten sich zum genauso im Gespräch kaum präsenten Martin wie die später durch das harsche Sonnenlicht Martins Wohnung einnehmenden Schatten, die ihn, eine allein trinkende Silhouette, völlig umhüllen. 

Licht und Dunkelheit allzu sehr als visuelle Gegenstücke zu den Zuständen nüchtern und betrunken zu arrangieren, würde dem Film jedoch nicht gerecht werden. Seine Besonderheit liegt in der Mischung beider Komponenten, in der Ergründung des Zwischenzustands einer Person, die das Licht aufnimmt und so überhaupt erst einen Schatten erzeugen kann. Mit Mikkelsen, der bereits für Die Jagd (org. Jagten, 2012) mit Vinterberg zusammengearbeitet hat, wurde die perfekte Person für den Ausdruck dieser Nuancen gewählt. Mikkelsen findet nicht nur für Martins Passivität unterschiedliche Schattierungen in seinem Gesicht, sondern auch für sein zögerlich entdecktes Selbstbewusstsein. Es gelingt ihm dadurch, die Figur zu erden, weil er keine der beiden Aspekte, bis auf wenige bewusst gesetzte Momente, übertreibt. Er spielt Martin, Inbild des Filmes, als zwischen diesen Zuständen schwankende, fehlbare Figur, die darum ringt, sich inmitten all dieser Möglichkeiten als autonomer Mensch zu situieren. Das alles gipfelt in den besten drei Endminuten der letzten fünf Jahre. 


Die weiteren drei Filme der Vorreihe werden am 17.04., 24.04. und 01.05. jeweils um 20 Uhr im Capitol gezeigt.

(Lektoriert von let und hab.)

ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 23 Jahre alt.

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