„Scheiße, scheiße, scheiße, Capulet ich heiße“: „Romeo und Julia“ im HLTM

Foto: Jan Bosch, Collage: L. Schiller
Im Rahmen der aktuellen Spielzeit unter dem Titel „Widerstand und Liebe“ hat sich das Hessische Landestheater Marburg (HLTM) DER Liebesgeschichte überhaupt gewidmet – Romeo und Julia. Unsere Redakteurin Laura war für PHILIPP bei der Premiere dabei und bekommt dadurch endlich die Gelegenheit, ihre große Liebe zum Barden (Shakespeare) der Welt kund zu tun.
Es ist ein Bild, das sich in das internationale kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat: Ein junges Mädchen, das alleine auf ihrem Balkon mit dem Mond zu reden scheint, darunter ihr Geliebter, der ihr im Verborgenen zuhört, redet sie doch über ihn. „O Romeo, Romeo, wherefore art thou, Romeo?“ Ihre Geschichte ist längst zum Synonym für junge, tragische Liebe geworden, ihre Worte so beflügelnd, so schön, dass sie auch nach 400 Jahren von Millionen Menschen rezitiert werden. Zwischen 1594 und 1597 wurde Romeo and Juliet aus der Feder eines noch relativ am Anfang seiner Karriere stehenden William Shakespeare in London uraufgeführt – und ist seitdem auf den Bühnen der Welt zu Hause.
Doch besonders in jüngster Zeit erfreut sich das klassische Stück außerordentlicher Beliebtheit – am Westend wie auch am Broadway wurden zwei hochkarätig besetzte Inszenierungen aufgeführt, in Berlin gab es letztes Jahr ein neues Musical namens Romeo und Julia: Liebe ist Alles, in Hamburg läuft eine Adaption des britischen Jukebox-Musicals & Juliet und diesen Sommer kehrt es als Western-inspirierte Inszenierung auch wieder in das Globe Theatre in London zurück. Fairerweise muss gesagt sein, dass Romeo und Julia nie wirklich an Beliebtheit verlor. Es ist eines der – wenn nicht das – meist aufgeführtesten Theaterstücke der Welt und selbst jemand, der sonst kein weiteres Werk von Shakespeare benennen kann, kennt Romeo und Julia. Eine Inszenierung mit neuen, überraschenden Akzenten ist dementsprechend eine komplexe Aufgabe. Das HLTM und der Regisseur Marc von Henning haben sich dieser gestellt und verleihen der Geschichte einen ganz eigenen Charme.
In fair Verona, where we lay our scene
Die Romeo und Julia Inszenierung des HLTM handelt – wie sollte es anders sein – von zwei übermütigen italienischen Jugendlichen verfeindeter Familien, die sich ineinander verlieben. Da sie dies aber geheim halten müssen, endet ihre Liebe letztendlich in einer Tragödie. Dazwischen reihen sich Monologe voller Sehnsucht, dramatische Geständnisse, hingebungsvolle Elegien, fatale Zweikämpfe und viele, viele zweideutige Witze in die Erzählung ein. Doch als sich der Vorhang öffnet, erkennt man, dass hier dennoch vieles anders als gewohnt laufen wird. Das Bühnenbild unter der Federführung von Hennings und Clara Eigeldingers ist nicht gerade das, was man mit der edlen high society Veronas assoziiert: ein schäbiger, heruntergekommener Wohnwagen, der durch Rotation gleichzeitig als Heim der Montagues und der Capulets fungiert, auf der einen und ein dunkelgrünes Zelt mit einem Kruzifix darauf auf der anderen Seite, dazwischen eine modrige Tischtennisplatte, die auch mal als Bett oder Bahre umfunktioniert werden kann.
Julia (gespielt von Mia Wiederstein) ist in dieser Inszenierung nicht die wohlerzogene Tochter reicher Eltern, sondern ein Scheidungskind, das nach dem Tod des Vaters zurück in das „neue“ (heruntergekommene, dystopisch wirkende) Verona kommt. Ihre Mutter, Lady Capulet (Ulrike Walther), ist ein gefühlskalter und alkoholisierter Mob-Boss und der neurotische Tybalt (Tobias Neumann) nicht ihr Cousin, sondern Ziehbruder. Auf der anderen Seite des Wohnwagenparks hausiert die ähnlich gefährliche Gang der Montagues, die ebenfalls von einer Matriarchin (Aliona Marchenko) angeführt wird. Benvolio (Flamur Bakaj) wird dabei kurzerhand zu Romeos Bruder befördert. Zwischen den Fronten existieren der aufmüpfige Mercutio (hervorragend verkörpert von David Zico), der Mönch Lorenzo (Haye Graf), der großen Nutzen aus seinem Garten zu ziehen scheint, und der Fürst, der als Stimme von Hennings aus dem Off die streitenden Familien maßregelt.
Be rul’d by me: Forget to think of her
Zu Beginn des Stücks ist Romeo (Georg Santner) noch ganz verliebt in Rosie, die von ihm aber nichts wissen will. Rosie (bzw. Rosaline) ist im Originalwerk eigentlich keine Figur, die tatsächlich auftaucht, wird in dieser Inszenierung aber zur zentralen Figur und – noch vor dem tragischen Liebespaar – zur Sympathieträgerin. In ihrer Funktion übernimmt sie dabei die Rolle der Amme als Julias Vertraute und Übermittlerin und ist darüber hinaus auch auktoriale Erzählerin. Sie durchbricht die vierte Wand, setzt sich zwischendurch auch mal ins Publikum und kommentiert das Geschehen. Sowohl erleichtert als auch ein bisschen empört ist sie darüber, dass Romeo so schnell über sie hinwegkommt, sobald er die schöne Julia erblickt. Verzweifelt versucht sie, in die Geschehnisse einzugreifen, wird aber – nicht nur von Romeo, sondern auch vom Universum, wie es scheint – immer wieder an den Rand gedrängt. Dadurch bekommt sie gegen Ende, obwohl sie schnell zu Julias enger Freundin wird, leider keine Gelegenheit mehr, um sie zu trauern. So präsent im Großteil des Stückes muss sie, wie das Publikum, die sich entfaltende Tragödie hilflos mit ansehen – auch wenn sie am Ende das letzte Wort behält: „Vergesst nicht diese Liebe, die uns beim Hassen verloren ging.“
Rosaline in den Mittelpunkt der Erzählung zu rücken ist keine neue Erfindung: Zum Beispiel schrieb Natasha Solomon den Roman My Fair Rosaline und auch der Film Rosaline (2022) verfolgt ein ähnliches Konzept. Der Regisseur von Henning entwickelte diese Idee allerdings schon vor 20 Jahren, als er 2004 Macbeth aus der Sicht von Macduff inszenierte. Zoubeida Ben Salah verkörpert dabei „seine“ Rosie so sympathisch, dass man nicht anders kann, als sich zu wünschen, sie könnte tatsächlich etwas gegen den altbekannten Lauf der Dinge ausrichten. Zusätzlich ist unter den Darsteller*innen besonders Ulrike Walthers hervorzuheben: Ihre Lady Capulet ist mal gefühlsvoll, mal aggressiv und – obwohl ihr die zentrale Trauerszene durch ihre Sprachlosigkeit genommen wurde – gibt sie eine der eindrucksvollsten Darbietungen des Abends.
For I am proverb’d with a grandsire phrase
Sprachlich wurden viele eigene Akzente gesetzt und Freiheiten genommen, sodass man die Inszenierung auch als eine „Neuinterpretation“ betiteln könnte. Mit Sicherheit sind viele von Shakespeares Worten (auf deutsch übersetzt) enthalten, aber es mischt sich doch so viel moderne Sprache mit ein, dass die geschwollenen Monologe am Anfang noch Lacher im Publikum erzeugen. Durch die wilde sprachliche Mischung entstehen Szenen, in denen Aussagen „ganz schön lost, der arme Kerl“ und „traurige Stunden können Tage dauern“ direkt aufeinanderfolgen können. In der berühmten Balkonszene (die hier auf dem Dach des Wohnwagens stattfindet) ist Romeo ganz entzückt von Julias Schönheit: Aufmerksam lauscht er ihren Worten, die, bevor sie in den relativ nah übersetzten What’s in a name-Monolog übergehen, mit den Worten „Scheiße, scheiße, scheiße, Capulet ist nunmal wie ich heiße“ beginnen. Viele – wenn nicht die meisten – von Shakespeare übernommenen Passagen reimen sich dabei, selbst wenn es im Originalwerk nicht der Fall ist.
Shakespeare zu übersetzen ist nicht leicht, aber für von Henning ist es bereits das fünfte Werk, das er für die Bühne bearbeitet. Die Bedeutung hinter Shakespeares Worten zu finden und dabei seine eigenen Worte einzubringen beschreibt er „wie einen Tanz, wie einen Ringkampf, wie am Klavier zu improvisieren oder wie mit jemandem ins Bett zu gehen“. In seiner Version des Stücks erscheint das Resultat dieses Tanzes, Kampfes oder dieser Liebesaffäre allerdings keineswegs unnatürlich, im Gegenteil. Die Sprache Shakespeares mischt sich ganz selbstverständlich unter moderne Phrasen und Jugendwörter, sodass eine frische Interpretation entsteht, die das Publikum die ganzen drei Stunden in ihren Bann zieht.
These violent delights have violent ends
Die Inszenierung macht vieles anders, moderner. Die fatale Kampfszene zwischen Tybalt und Mercutio entfaltet sich als Paartanz. Die Szenen, die sich innerhalb des Wohnwagens abspielen, werden als Einspieler auf einer großen Leinwand projiziert, wie auch Szenen, für die im Botanischen Garten und in der St. Marien Kirche gedreht wurden. Hierdurch sieht das Publikum die Darsteller*innen sehr viel näher als gewöhnlich, was eine immersive Erfahrung bereitet.
Die veränderten Familienverhältnisse der Montagues und Capulets erhöhen teilweise die Diskrepanzen in Romeo und Julias überschwänglichen und überstürztem Verhalten und machen deutlich, wie absurd ihre Reaktionen (zum Beispiel auf den Tod von Tybalt) sind. Der Humor des Stückes, den man aufgrund des traurigen letzten Aktes gerne mal vergisst, wurde für ein modernes Publikum getreu wiedergegeben, samt zweideutiger Witze und homoerotischer Anspielungen. An der ursprünglichen Erzählung ist ansonsten wenig verändert – nur das Ende, bei dem es, ohne zu viel vorwegzunehmen, geschafft wurde, dass es irgendwie noch schlimmer, noch tragischer erscheint.
Romeo und Julia läuft noch bis zum 16. Mai im Erwin-Piscator-Haus. Die Vorstellung zu besuchen lohnt sich, auch wenn man gar nichts mit Shakespeare anfangen kann. Die Inszenierung ist voller Witz, großer schauspielerischer Leistung und viel liebevoller Hingabe zum Detail. Und schließlich ist es nie zu spät dafür, dem Barden auf seinen unergründlichen Wegen zu folgen.
(Lektoriert von jub und Antonia Gutsche)
ist 24 Jahre alt und studiert Literaturvermittlung in den Medien, sieht sich selbst aber immernoch als Anglistin. Sie weiß nichts über vieles, aber alles über Jane Austen. Seit November 2024 in der Chefredaktion tätig.