Sneak-Review #239: Pearl
Illustration: Annabell Sent
Realität ist, wie die junge Pearl (Mia Goth) vorführt, ein fast schon beliebig erweiterbares Konzept, das viel Platz für Dinge bietet, die anscheinend gar nicht dazugehören. Pearl lebt zwar in der bedrängenden Realität ihrer Familienfarm, sie lebt aber auch in den und für die Momente, in denen sie sich bei den kurzen Stadttouren, die sie zwecks der Medikamentenbeschaffung für ihren kranken Vater unternimmt, in das lokale Kino schleichen kann. Entzückt von den dort zu sehenden Varieté- und Tanzfilmen – wir befinden uns immerhin im Jahr 1918 – nutzt sie das Kino als Projektionsfläche für ihre eigenen Träume und setzt alles daran, um als baldige Hollywood-Tänzerin von ihrer Farm entkommen zu können. Der Film strukturiert dabei alle Pearl umgebenden Umstände so, dass sie maximalen Druck auf sie ausüben. Die abgelegene Farm wird von ihrer strengen, religiösen Mutter Ruth (Tandi Wright) regiert, die bemerkt, dass Pearl die Realität, die sie ihr bietet, nicht schätzt. Die nur angedeutete Krankheit des Vaters (Matthew Sunderland) hat ihn völlig paralysiert, weshalb er der ständigen Versorgung durch Pearl und seine Frau bedarf. Pearl kümmert sich um die Tiere, Pearl kümmert sich um ihren Vater, Pearl kümmert sich um die Anforderungen ihrer Mutter. Die einzige Hoffnung auf Flucht vor diesen Verhältnissen – Pearls reicher, ebenso junger Ehemann Howard (Alistair Sewell) – befindet sich an der Front, im Krieg. Pearl ist zu beschäftigt, um sich mit ihrer Identität zu befassen und doch ist sie auf sich allein gestellt. Was kann sich sonst zwischen dem einengenden Status quo und ihren eskapistischen Träumen auftun als ein Abgrund?
Zwischen Status quo und Slasher-Quote
Diese Einsamkeit bildet die Basis für den Horror von Pearl, die von Ti West, einem bereits durch zahlreiche eigene Horrorfilme genreerfahrenem Regisseur, auch ästhetisch umgesetzt wird. Die Grenzen, die der Hauptfigur durch ihre Routinen gesetzt sind, könnten auf den ersten Blick auch wie eine befreiende Idylle wirken, wenn Autonomie nicht als erstrebenswertes Ziel betrachtet würde. Demnach inszeniert sich der Film oberflächlich als Disney-Märchen. Die Kamera gleitet über das satte Grün der Wiese vor der Farm, fängt mehrmals das sonnige Gold der Weizenfelder ein und die blutrote Scheune wirkt in den häufigen Totalen fast schon pittoresk. Die kräftige Farbgebung erinnert in einigen Momenten an Victor Flemings Der Zauberer von Oz, geht es doch auch da um den Übergang zwischen unterschiedlichen Welten, von denen eine zumindest oberflächlich viel einladender und wohlwollender wirkt. Doch Pearl erstickt in den Farben ihrer Welt, ist kaum noch erkennbar zwischen jener Scheune, die für sie hauptsächlich als Arbeitsort fungiert, und ihrem Haus. Diese durchaus elegante Inszenierung erstreckt sich auch auf die dem ‚Slasher‘-Genre entspringenden Sequenzen, die das Blutrot der Scheune erweitern. Dass sie nicht als völliger Bruch der Märchenoberfläche wahrgenommen werden, liegt an der von Mia Goth herausragend gespielten Entwicklung ihrer Figur. Die Reichweite ihres Schauspiels erlaubt es der ebenfalls in Infinity Pool aufgefallenen Schauspielerin, Pearl trotz ihrer mörderischen Tendenzen als echten Schmerz spürende Figur zu spielen. Der Ästhetik des Films entsprechend, mag Pearl zunächst wie die Hauptfigur eines Disney-Musicals wirken, doch in ihr schlummert ein Horrorfilm.
Ein Horrorfilm, der jedoch nicht losgelöst im luftleeren Raum schwebt. Pearl ist als Vorgeschichte zu X angelegt, dem vorangegangenen gemeinsamen Film von Ti West und Mia Goth. Bereits im Laufe der Produktion von X hatten West und Goth – die sowohl die Hauptrolle als auch die gealterte Pearl in X spielte –, Ideen für die Vorgeschichte der den eigentümlichen Kern des damaligen Films bildenden Pearl. Bereits drei Wochen nach dem Ende der Postproduktion von Xbegannen, nach Vollendung des Drehbuchs, bei dem Goth neben West als Autorin aufgeführt wird, die Dreharbeiten zu Pearl, der in Amerika noch im gleichen Jahr wie X erschien. Die in unserer vermeintlich stabilen Realität auffindbaren Verbindungen zwischen beiden Filmen setzen sich fort, wenn man bedenkt, dass X ebenfalls im Rahmen einer vergangenen Sneak des guten Geschmacks gezeigt wurde, wie nun auch die Erweiterung dieses kleinen – Achtung: nicht zu unterschätzender Modebegriff – Horror-Universums, Pearl.
Die gute alte Gegenwart
Obwohl Pearl dennoch für sich stehen kann, ist die Figurenentwicklung insofern begrenzt, als dass sie doch an X anknüpfen muss. Neben dieser zunächst strukturellen Begrenzung wird Pearl noch von etwas anderem zurückgehalten: der Gegenwart. Kurz vor ihrer ersten im Film gezeigten Stadttour, weist Pearls Mutter sie darauf hin, ihre Maske nicht zu vergessen und bloß Abstand von anderen Menschen einzuhalten. Pearl bezieht sich also durch den Aufgriff einer historisch belegten, vergangenen Pandemie, nämlich der Spanischen Grippe, auf die Umstände seiner Entstehung. Stimmt, 2022, war da nicht etwas? Ganz gleich, was für Reaktionen ein Corona-Bezug in einem Horror-Film auslösen mag, innerhalb dieses Filmes wirkt er trotz der historischen Belegbarkeit deplatziert, weil er nie ausgearbeitet wird. Neben der Tatsache, dass so die Einsamkeit Pearls erhöht wird, hat der Film nichts darüber zu sagen. Vielleicht ist es schwierig, einem solch einschneidenden Gegenwartsereignis durch einen oberflächlich passenden, vergangenen Bezug nicht Rechnung zu tragen, vielleicht wäre aber ein eskapistischer Ansatz besser gewesen. Plötzlich fällt nämlich diese Gegenwart über den Film her, weit über die Logik seiner Welt hinaus: Ach, deshalb sind es nur so wenige Schauspieler:innen, daher die vielen Szenen im Freien. Purer Eskapismus und dadurch auch eine Form von Verdrängung sollte keineswegs zur Norm werden, aber Pearl kann dieses Element nicht kohärent in sein restliches Gefüge einbinden.
Wie auch X ist Pearl ein Film über das Filmemachen. So knüpft die eben angesprochene Ästhetik nicht nur an den konkreten Inhalt dieses Filmes an, sondern auch an übergeordnete Inszenierungskonventionen, die mit dem ‚Golden Age‘ von Hollywood assoziiert werden, als deren baldigen Teil sich Pearl verstehen möchte. Durch diese Selbstreflexivität stellt sich Pearl, wenn auch durch die Nutzung anderer Genreelemente, in eine Reihe von Filmen der letzten zwei Jahre, die – Achtung noch so ein Modebegriff – über die Macht des Kinos nachdenken. Damien Chazelles Babylon, Steven Spielbergs The Fabelmans und kürzlich Sam Mendez‘ Empire of Light befassen sich alle unter Einnahme unterschiedlicher Perspektiven und Bezugnahme auf unterschiedliche Zeiten mit den Möglichkeiten des Films. Wie auch Pearl kommen alle zu einem ähnlichen Schluss und betonen die eskapistischen Qualitäten der Leinwand. Ist die sogenannte Realität inzwischen so schlimm geworden, dass man nur noch aus ihr flüchten möchte oder handelt es sich hier um ein Medium, das sich nach der – ja, ich weiß – Pandemie seiner eigenen Wirkungsmacht und Existenzberechtigung versichern möchte?
Pearl weiß darauf nur eine bedingt originelle Antwort zu geben. Wie auch in Wests vorherigen Filmen wie The Inkeepers oder The House of the Devil zeigt er sich als versierter Student des Horrorgenres, der weiß, wie er mit bekannten Versatzstücken zu spielen hat, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Trotz der präzisen Inszenierung und dem effektiven Schauspiel Goths, bleibt es leider dabei: ein Spiel mit Bekanntem, ein Beharren darauf, dass die alten Mittel noch funktionieren. Es deuten sich hier und da Ansätze eines feministischen Horrors an – die Unzulänglichkeiten der männlichen Figuren, die nur weich skizzierte Kritik an der Objektifizierung von weiblich gelesenen Personen in der gerade aufkommenden Filmwelt –, sie lugen jedoch nur vereinzelt hinter den bekannten, wenn auch in frischer Farbe erstrahlenden Fassaden hervor als versteckte Perlen, die mehr reflektieren denn selbstständig scheinen.
Pearl wurde zu 52% positiv und zu 48% negativ bewertet.
Habt ihr Pearl schon gesehen? Was denkt ihr über den Film? Und falls ihr Genre-erfahren seid: Was ist euer Lieblings-Slasher? Schreibt es uns gerne in die Kommentare!
ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 25 Jahre alt. Liebt schiefe Vergleiche.