Warum ein Studienfachwechsel kein Scheitern ist
Sich für einen Studiengang zu entscheiden, ist nicht leicht. Manche wissen zwar seit ihrem fünften Lebensjahr, dass sie Astronaut:in, Lehrer:in oder Richter:in werden wollen, manche fällen die Entscheidung nach der Schulzeit aber auch eher aus einer Laune heraus. Doch was mache ich, wenn ich während des Studiums merke, dass mein Fach nicht zu mir passt, mich nicht erfüllt oder unglücklich macht? Die Entscheidung, den Studiengang zu wechseln, ist nicht einfach – kann sich aber lohnen.
»Es hat sich wie Aufgeben angefühlt«
Mara ist 24 Jahre alt und wird im Sommersemester wieder Ersti sein. Ihren ersten Studiengang – Lehramt für Haupt- und Realschule mit den Fächern Englisch und Arbeitslehre – hat sie kurz vor den Prüfungen abgebrochen. Nun beginnt sie mit Sozialer Arbeit noch einmal von vorne. Leicht ist ihr die Entscheidung nicht gefallen: »Mit meinem Studium aufzuhören war für mich schon eine Art Aufgeben, es hat sich jedenfalls so angefühlt.« Zu diesem Gefühl passt ein Erlebnis, das Mara bei den Online-Bewerbungen für ihren zweiten Studiengang hatte. In der Kontrollansicht las sie dabei nämlich: Studierte Semester »6«, abgeschlossenes Studium »Nein«, Berufsausbildung »Nein«. »Das liest sich dann schon wie: Ich habe noch nichts erreicht im Leben«, erzählt sie. »Das Schlimme daran ist, dass es ja häufig doch nur darum geht, wie etwas schwarz auf weiß aussieht: Habe ich eine Lücke im Lebenslauf oder nicht? Warum ich abgebrochen habe, fragt niemand.«
Tatsächlich waren die Gründe für ihren Studienfachwechsel komplex und die Geschichte dahinter mit absurd viel Pech verbunden. Nach der Exmatrikulation aufgrund eines Verwaltungsfehlers, verloren gegangenen Bewerbungen und verpassten Fristen, entschied sich Mara für ein Au-Pair-Jahr in London, um die Zeit bis zur nächsten Bewerbungsmöglichkeit zu überbrücken. »In diesem Jahr habe ich nochmal reflektiert, wie alles gelaufen ist und mich auch mit dem Gedanken beschäftigt, mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland wieder bewerben zu müssen.« Fragen, die sie sich in dieser Zeit stellte: Was erwarte ich von meinem Studium? Wie viel Lust habe ich noch darauf? Will ich das wirklich?
Auszeiten und versunkene Kosten
Dass eine Auszeit hilfreich sein kann, um sich mit der eigenen Studienwahl zu beschäftigen, weiß auch Ulrikka Richter von der „Zentralen Allgemeinen Studienberatung“ (ZAS) der Philipps-Universität: »Alles, was neue Lebenserfahrung ermöglicht, die einen mit sich selbst in Kontakt bringt, ist super, um diese Entscheidung zu treffen.« Auch ihre Kollegin Maren Kersting plädiert dafür, nicht übereilt zu entscheiden: »Grundsätzlich ist es klug, sich genügend Zeit zu nehmen.« Die ZAS berät zunächst zwar Schüler:innen, die sich zum ersten Mal mit ihrer Studienwahl beschäftigen. Hinzu kommt aber auch eine zweite große Gruppe: Studierende, die an ihrer Studienwahl zweifeln.
Dabei werden die beiden ZAS-Beraterinnen auch oft mit Sorgen und Ängsten der Studienfachzweifler:innen konfrontiert. Besonders schwer falle es Studierenden, die erst nach einer hohen Semesteranzahl an einen Fachwechsel denken und zu diesem Zeitpunkt schon viel Zeit und Energie investiert hätten. Die Erfahrung zeige: Je später im Studium die Einsicht komme, desto schwerer falle die Entscheidung und desto heftiger sei auch die Krise. Dieser Effekt wird in der Psychologie »Sunk Cost Fallacy« genannt: Wenn wir uns fragen, ob wir etwas tun sollen oder nicht, beziehen wir in den Entscheidungsprozess mit ein, was wir bisher investiert haben – obwohl diese Kosten bereits »versunken« sind. Auch wenn ein Projekt objektiv betrachtet aussichtslos erscheint, neigen wir dazu, es fortzusetzen, wenn wir bereits viel Geld, Zeit oder Energie eingebracht haben. Die Investitionen der Vergangenheit dienen also als Begründung für das Weitermachen in der Gegenwart.
Entscheidungen zu korrigieren gehört zum Erwachsenwerden
»Der Gedanke ,obwohl ich es will, kann ich es nicht‘ ist nicht einfach«, erklärt Kersting. »Das kann durchaus auch selbstwertschädigend sein.« Ihre Kollegin empfiehlt daher präventiv zu beraten: »Ich spreche auch mit Menschen, die sich zum ersten Mal für ein Studium entscheiden, über das Thema Fachwechsel und versuche, ihnen die Sorge zu nehmen, dass sie sich falsch entscheiden.« Der O-Ton der beiden ZAS Beraterinnen ist eindeutig: Ein Studienfachwechsel ist kein Scheitern. »Es ist ganz normal, dass Entscheidungen in der Studienzeit noch einmal korrigiert oder geändert werden – das ist kein Scheitern, sondern ein Entwicklungsprozess, der in diesem Alter ansteht«, stellt Kersting klar. Oder wie Mara es für sich selbst formuliert: »Nur weil ich mir mit 18 mal etwas ausgedacht habe, heißt das ja nicht, dass ich es jetzt auch wirklich machen muss.« Dass das Leben nicht immer nach Plan verläuft, sei für sie eine Erfahrung, die zum Erwachsenwerden dazu gehöre. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: »Der Gedanke, eine Entscheidung für das ganze Leben zu treffen, ist doch längst überholt«, sagt Kersting. »Die modernen Lebens- und Berufsbiographien sind viel stärker von Umorientierungen und Wechseln geprägt.« Tatsächlich ist es heute eher ungewöhnlich, 40 Jahre im gleichen Job, im gleichen Unternehmen, in der gleichen Stadt zu arbeiten. Zur Flexibilität des modernen Berufslebens passt es also eigentlich ganz gut, sich während des Studiums noch einmal umzuorientieren.
PBS: jede fünfte Beratung zu Studienabbruch
Der Diplom- Psychologe Thomas Schneyer leitet die »Psychotherapeutische Beratungsstelle für Studenten« (PBS) der Philipps-Universität. Studierende können sich dort bei allen persönlichen Konflikten in einer offenen Sprechstunde anonym und kostenlos beraten lassen. Jede:r Fünfte, der:die in seine Sprechstunde komme, habe mit dem Thema Fachwechsel oder Studienabbruch zu kämpfen, berichtet Schneyer. Der Psychologe findet in seinen Beratungen klare Worte: »Das Studium wird irgendwann zu Ende sein und dann werden Sie 40 Jahre etwas machen müssen, was Sie eigentlich nicht machen wollen – das ist doch mehr als hart.« Er rät daher dazu, in allen Phasen des Studiums zu überlegen, welche Alternativen es gibt. Diese Überlegungen seien dann aber durchaus ergebnisoffen. Es gäbe auch Fälle, in denen Personen sich alles andere angeschaut, nichts gefunden und daher das »am wenigsten Schlechte« weiterstudiert hätten. »Es gibt ja auch Menschen, die eher negativ gepolt sind«, meint Schneyer. Davor, einen Wechsel als Scheitern aufzufassen, warnt aber auch er. Kaum jemand wisse doch genau, was in der Uni verlangt werde. Erwartungen könnten sich als falsch herausstellen und Interessen auch verlagern. »Muss ich ein faules Ei essen, nur weil ich es aufgeschlagen habe? Ich hoffe nicht!«, poltert er. Man solle sich zwar einen Irrtum eingestehen können, aber das müsse man ja fast täglich. »Sonst würde wohl kaum jemand je erwachsen werden.«
Reifen statt Scheitern
Eine andere Methode, die helfen kann, sich vor der Wahrnehmung als Scheitern zu schützen, ist das sogenannte »Reframing«. Dabei wird versucht, Geschehenes aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Scheitern, Versagen oder Aufgeben werden so zu Entwicklung, Reife
oder Verbesserung, aus »mein Traum ist aus« wird »ich bin aufgewacht« oder »ich habe mich von falschen Illusionen verabschiedet«. Ein Studienabbruch kann aber nicht nur sprachlich positiv gesehen werden. »Es ist eine Kompetenz, damit umgehen zu können, wenn etwas nicht klappt«, erklärt die ZAS-Beraterin Kersting. Sich in einer schwierigen Situation aufraffen zu können, nicht aufzugeben und immer weiterzugehen, zeuge von Reife. Mara berichtet auch, dass es für sie besonders schön war, zu merken, dass ihre Freunde und ihre Familie sie unterstützen. »Zu mir hat niemand gesagt: ,Warum studierst du jetzt nicht weiter? Du wirfst gerade drei Jahre weg!‘ Das hat mir sehr geholfen.« Klar ist, dass zu einer solchen Entscheidung Mut gehört, und sie sicherlich nicht immer leicht fällt.
Sich etwas zu trauen, ist aber immer noch besser, als sich jahrelang unnötig durch den falschen Studien- und Berufsalltag zu quälen. Denn – seien wir ehrlich – auch in einem Studium, das uns eigentlich gefällt, fehlt uns manchmal die nötige Motivation. Etwas zu machen anstatt still zu leiden, rät auch Diplom-Psychologe Schneyer: »Diejenigen, die merken, dass es falsch ist, und nicht handeln – die haben eigentlich versagt.« Mara jedenfalls hat gehandelt und ist überzeugt, dass es für sie die richtige Entscheidung war. Als Vorbereitung auf ihren neuen Studiengang, hat sie vor Beginn des neuen Semesters ein Praktikum in einer Wohngruppe für unbegleitete, minderjährige Geflohene gemacht. Für die Arbeit dort kann sie sich begeistern: »Ich habe jetzt das Gefühl, dass es etwas ist, dass ich wirklich machen will und auf dass ich mich wirklich freue«, erzählt sie. In die Zukunft sieht sie überwiegend positiv. Zwar werde es komisch sein, nochmal als Ersti zu beginnen. »Andererseits freue ich mich auf eine neue Stadt und neue Leute. Und ich bin richtig gespannt auf meinen Neuanfang im Studium.« Ihre Geschichte zeigt: Wichtiger als die Erwartungen, die wir oder andere an uns haben, ist es doch, etwas zu finden, das wirklich zu uns passt. Ob dafür ein, zwei oder mehr Anläufe nötig sind, ist im Ergebnis gar nicht so wichtig. In der Regel ist es ja ohnehin so, dass wir eine Arbeit, die wir gern machen, auch besser erledigen – das haben mittlerweile hoffentlich auch alle Personalchef:innen verstanden. Wer etwa von Herzen gern Astrophysiker:in werden will, sollte nicht wegen eines abgebrochenen Philosophiestudiums abgelehnt werden. Und mal ehrlich: Wen stört schon eine Lücke im Lebenslauf, wenn sie mir hilft, meinen – wirklichen – Traum zu erreichen?
Stellvertretende Chefredakteurin und Ressortleiterin Politik. Hat seit neustem ein abgeschlossenes Hochschulstudium - yeah! - und ist ein Fan von Katzen, dem Internet und Katzen im Internet.