Winter in Polen

Winter in Polen

Krakau! Erasmus in Polen! Yeah, eine schöne Stadt, eine sehr gute Uni und billiges Bier – die wohl perfektesten Voraussetzungen für ein Erasmussemester, dachte sich unsere Autorin, packte ihre Koffer, zog nach Polen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Bis heute nicht. Ein Erfahrungsbericht zum Lachen und Weinen.

Erasmus ist schön. Es ist die Chance einmal in die Welt zu ziehen und trotzdem etwas Sinnvolles zu machen: Sein:ihr Studium zu beenden zum Beispiel, eine neue Sprache zu lernen oder festzustellen, dass auch in Polen einige Mitbewohner:innen noch nie einen Besen gesehen haben. Womit wir auch schon beim Alltag in Polen angekommen wären. Eigentlich unterscheidet sich dieser fast überhaupt nicht von dem der deutschen Studierenden, denn im Grunde ist die europäische Kultur überall fast identisch (eine der wichtigsten Erfahrungen, die man als Erasmus-Studi lernt). Allerdings bleibt da ein kleines „fast“. Und dieses Fast hat weite Ausmaße.

Die Sache mit dem Umweltschutz

Nahezu jeder Haushalt in Deutschland trennt Müll, mindestens zwischen Altpapier, Plastik, Glas und Restmüll, die meisten auch noch Bio, wenn es nicht gerade Sommer ist und die Würmer sich durch die grüne Tonne gefressen haben, sodass der ganze Hausflur nach der ausgetretenen Suppe riecht. Auch in Krakau stehen drei Tonnen bereit: eine für Glas und Dosen, eine für Altpapier und eine für alles andere. Komisch, dachte ich mir, polnisches Plastik muss sich wohl genauso gut verrotten lassen, wie der Apfelgriebsch. Warum wir dieses Plastik nicht in Deutschland verwenden… Doch selbst diese Trennung war meinen Mitwohnis zu viel und sie warfen einfach alles in die Tonne, die gerade am leersten war.

Während in Marburg Rucksäcke und Taschen aus Stoff zurzeit ultracool sind, waren in Polen wohl Plastiktüten der letzte Schrei. Zumindestens vermutete ich das, denn alle hatten bei jedem Einkaufen circa drei mit eingekauft und überall schien es selbstverständlich zu sein, die Kund:innen mit Plastiktüten zu attackieren. Wehe, man legt drei Mandarinen ohne Tüte auf das Laufband. Doch um auch eine Lanze für die Pol:innen zu brechen: es gibt natürlich auch nachhaltig denkende Landsleute.

Willkommen in Peking… ähhh Polen

Wer an Smog denkt, denkt an China, an Indien, an Bangladesch und ich denke jetzt immer an Krakau. Zeitweise gab es in Krakau Smogwerte, die schlimmer waren, als die in Peking. Es gibt eine App, die man sich herunterladen kann und die einen die stündlich aktuellen Smogwerte anzeigt. Nach europäischem Recht darf der Tagesmittelwert nicht höher als 50 µg/m³ sein, wobei nur 35 Überschreitungen im Jahr erlaubt sind. Die 3,5-Millionenstadt Berlin kommt auf 33 Überschreitungen im Jahr 2014, wobei der Höchstwert niemals über 100 war. In Krakau haben wir uns gefreut, wenn der Wert an die 100 war, denn meistens lag er bei 200 µg/m³. Das höchste, was ich erlebt habe, war Ende Januar ein Smogwert von 385 µg/m³ – Peking hatte an diesem Tag einen Wert von 58. Ich habe Screenshots gemacht, falls mir wer nicht glauben sollte.

Die meiste Zeit im Winter liefen die internationalen Studierenden mit Atemmasken und dicken Schals um Nase und Mund herum und hoffte, keine Staublunge zu bekommen. Die polnischen Kommiliton:innen lächelten und meinten „Welcome to Poland“. Die starke Smogbelastung ist jedoch nur im Winter, denn die Ursache liegt in der Braunkohle, die in Krakau immer noch der Hauptenergieträger ist. Braunkohle ist für die Pol:innen sowas wie für uns Autobahnen ohne Tempolimit oder wie die Waffen für die Amis. Viele stört der Smog, aber kaum einer engagiert sich gegen ihn. Wo sind eigentlich die Grünen in Europa, wenn man sie mal braucht?

Recht und Rechts

Einer der spannendsten Erlebnisse in Polen waren die Parlamentswahlen Ende Oktober in Polen. Mit eindeutiger Mehrheit gewann die nationalkonservative und euroskeptische PiS-Partei (auf Deutsch: Recht und Gerechtigkeit). An ihrer Spitze steht eine Frau, die nicht nur rein optisch Frauke Petry ähnelt. Nach dem Wahlergebnis und der Regierungsbildung gingen heftige Diskussionen in ganz Europa und natürlich in allen gesellschaftlichen Sphären in Polen los. Das Interessante der Debatten war, dass ich in den westlichen Medien von einer „rechtskonservativen“ und „nationalistischen“ Partei, „einem zweiten Ungarn“ las. Einige Pol:innen erzählten mir jedoch, dass sie eher Angst haben, die Sowjetpolitik würde fortgeführt werden. Während sich der Westen auf die drohende Beschränkung der Presse, die Entmachtung der Verfassungsrichter und die Ausländerfeindlichkeit stürzte und eine nationalistische Zukunft prognostizierte, sahen viele Krakauer:innen in den geplanten Verstaatlichungen, der Aufhebung der Gewaltenteilung und den kontrollierten öffentlich-rechtlichen Medien Stalins Antlitz grinsen. Den Zusammenhang zwischen politisch links und rechts lasse ich hier offen, empfehle aber eine Studienreise nach Polen, in dem das 20. Jahrhundert auf eine großartige Weise aufgearbeitet wurde.

Die meisten jungen Leute meckerten über die neue Partei, komischerweise ging aber kaum jemand von den jungen Menschen ihnen wählen. „Bringt doch nichts“, war die häufigste Antwort, auf der ein Monolog von mir folgte, der Wahlen als demokratisches Mittel thematisierte. Und dann wurde man als Deutsche auch immer auf Merkels Flüchtlingspolitik angesprochen und hörte Argumente, die die AfD als links dastehen lassen. In Polen ist selbst unter den jungen Menschen und Studierenden eher eine flüchtlingsablehnende Haltung zu beobachten. Vorurteile, Rassismus und imperialistische Denkweisen, bei denen mir meine politisch korrekten Ohren schlackerten, werden nicht automatisch als rechts oder nationalistisch angesehen. Dies ist jedoch wenig überraschend, wenn die Politik darüber redet, dass Geflüchtete Seuchen mit ins Land bringen und Demonstrierende Schilder hoch halten, auf denen „Wir machen mit Flüchtlingen das, was Hitler mit den Juden machte“ steht. Dabei ist Ausschwitz nur eine Stunde Autofahrt von Krakau entfernt und für einen Erinnerung an die Vergangenheit sehr gut geeignet. Sogar die katholische Kirche macht mit, nichts mit Nächstenliebe oder christliche Werte, die werden nur hervorgekramt, wenn es um das Thema Abtreibung geht, denn Abtreibungen sollen komplett verboten werden, selbst nach einer Vergewaltigung.

Aufbruch in Polen

Doch es gibt auch eine große Gegenszene, von der in unseren Medien leider selten gesprochen wird. Wer durch die Straßen Krakaus läuft, entdeckt Häuserwände, die mit „Sozialismus“ und „Refugees welcome“ in Polnisch angesprüht wurden. Fast jedes Wochenende gab es größere und kleiner Aktionen, Demonstrationen oder Info-Stände, in denen die Menschen ihren Unmut über die Politik der PiS-Partei verkündeten. Aufkleber, Flyer und Plakate sammelten sich an öffentlichen Stellen und immer mehr Dozent:innen proklamierten gut begründet ihre Ablehnung gegen die aktuelle Regierung. Wen sie wohl gewählt haben?

Polen ist nicht das schwarze Schaf der EU, es ist ein Land, das gerade Umbrüche erfährt, in denen die Politik kritisch hinterfragt und die (nicht) abgegeben Stimme bereut wird. Auf der Regierungsebene erlebt das Land einen Rechtsruck, aber in der Gesellschaft ist eine klare Gegenposition festzustellen. Je absoluter der Regierungsstil wird, desto größer der Gegenwind. Ein gutes Zeichen. Wie ganz Europa befindet sich auch Polen in einer politischen Krise, nur eben in seiner ganz eigenen Krise. Doch Krisen lehren, Krisen halten uns an, um einmal wirklich nachzudenken. Und dann geht es mit neuem Lebensmut weiter, so auch in Polen.

Erasmus in Polen Die Uni Marburg unterhält bis 2021 in sechs polnischen Städten Erasmus Partnerschaften: Warschau, Torun, Lodz, Posen, Breslau und eben in Krakau. Vor allem die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler:innen können an einem Austauschprogramm in Polen teilnehmen, wobei Krakau den politischen Studiengängen vorbehalten ist. Dort wird an der Jagiellonen-Universität studiert, wo auch schon Kopernikus und Papst Johannes Paul II. studiert haben. Mit ihrer Gründung im Jahr 1364 ist die Jagiellonen-Universität die älteste Uni in Polen und die zweitälteste in Mitteleuropa.

FOTOS: Jaap Arriens auf flickr.com, CC-Lizenz & Yvonne Elfriede Hein

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