Bilderwelten und Weltbilder: Die 22. Marburger Kamerapreisverleihung

Bilderwelten und Weltbilder: Die 22. Marburger Kamerapreisverleihung

Fotos: Georg Kronenberg, i. A. d. Stadt Marburg

Beim Betreten des Kinos schien alles zunächst normal. Ein Perspektivwechsel, ein Blick auf die erste Etage enthüllte die Subkultur, die sich hier eingefunden hatte: Eine bunte Mischung sammelte sich vor dem Eingang des Kinosaals. Manche waren in elegante Anzüge und Kleider gehüllt, andere in alltagstauglichen Kombinationen aus Jeans und Kapuzenpullovern. Trotz der Überzahl der ersteren Gruppe fanden sich doch einige Studierende unter den Anwesenden und betraten den Saal mit lässig an einer Schulter herabhängenden Rucksäcken. Der Anlass: Der 22. Marburger Kamerapreis ging dieses Jahr an Benedict Neuenfels und wurde im Cineplex Marburg verliehen.

Bilderwelten in Marburg

Nach einem kurzen Trailer für das bisherige Werk von Neuenfels und den Kamerapreis, die Veranstaltung, für die sich alle bereits im Kinosaal befanden, eröffnete die Marburger Jazzband Jazzrobots die Veranstaltung. Sie begleitete den Abend mit Jazz-Reinterpretationen von Musikstücken aus den Filmen, an denen der diesjährige Kamerapreisträger beteiligt war. Die stets präsenten Fotograf:innen tauchten die Musiker immer wieder in ein kurzes Blitzlicht. Schließlich betrat Universitätspräsident Prof. Dr. Thomas Nauss die Bühne. Seine Begrüßungsrede setzte die rhetorisch-thematischen Akzente des Abends. Wiederholt wurde die Bedeutung der Zusammenarbeit bei der Filmschaffung betont, zumal Neuenfels mit seinem gesamten Team anreiste und den Preis dadurch nicht als Einzelperson annahm. Er spräche auch ungern allein von ‚Kameraführung‘ und sehe sich selbst nicht als ‚Kameramann‘, da diese Begriffe genau die kooperativen und vielfältigen Aspekte der Arbeit verschleiern, durch die die Produktion überhaupt erst ermöglicht werde. Vielmehr solle von ‚Bildgestaltung‘ die Rede sein, die Kombination von gestalterischer Kameraarbeit, Lichtsetzung, Bewegungsdramaturgie und Farbwahl. Der Preis solle auch die Möglichkeit bieten, bewusst über die Herstellung und Wirkmacht von Bildern, besonders in ihrer politischen Verbreitung von Information und Desinformation, nachzudenken. Den Aspekt der Teamarbeit erweiternd, verwies der Universitätspräsident mehrmals auf das Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteur:innen, die den Kamerapreis organisierten und realisierten. Neben zahlreichen unterstützenden Förderungen sei der mit 5000 Euro dotierte Preis aus der engen Verbindung der Stadt Marburg und ihrer Universität heraus entstanden, wodurch er auch als studentisches – es gab auch ein medienwissenschaftliches Seminar im Rahmen des Preises – Unterfangen begriffen werden könne. „Marburg ist eine Universität“, war denn auch der wenig überraschende Höhepunkt dieses Gedankengangs, nur in einem halbwegs scherzhaften Ton deklamiert.

Die darauffolgende Rede des Oberbürgermeisters Dr. Thomas Spies knüpfte an wenige der bereits vorgetragenen Punkte an, obgleich in einer weitaus emotionaleren Stimmlage. Er erwähnte Neuenfels‘ Begleitausstellung „first I was P.O.L.A.R.O.I.D.“, die bis zum 10. Mai im Rathaus erste, unbewegte Bildmanipulationsversuche zeigte. Es fiel häufig der Begriff der ‚Bilderwelten‘, Neuenfels – damit war sicherlich sein Team stets mitgemeint – strebe nach Tiefe und Gestaltung im Bild, die wiederum den nötigen Raum zur Deutung kreiere. In solchen stets im Abstrakten bleibenden Deutungsversuchen versuchte der sich selbst als Filmlaie bezeichnende Oberbürgermeister, einen einführenden Zugang zu der Arbeit des ausgezeichneten Filmkünstlers und seinem Team zu bieten. Seine Rede endete mit einem obligatorischen Aufruf, doch häufiger ins Kino zu gehen, um es am Leben zu erhalten. Auffällig viel Beifall begleitete diese offensichtlich naive Äußerung. Sie ignorierte unter anderem systemische Mängel der deutschen Filmförderung und reduzierte das Problem der schwindenden Anzahl an Kinogänger:innen – womöglich eingenommen von der festlichen Stimmung – auf die mangelnde Kaufkraft der Konsument:innen.    

Schuss-Gegenschuss

Das rechteckige, weiße Rednerpult wurde kurz zur Seite getragen, während die Jazzrobots ein zweites Stück spielten. Der Blick auf die Kinoleinwand war frei. Das etwas plötzlich von Film zu Film schneidende, anthologische ‚Arbeitsportrait‘ bot einen Einblick in die vielseitigen Inszenierungsmodi, die Neuenfels und sein sich über die Filme nur leicht wandelndes Team bespielen können. Die dargebotenen Szenen erstreckten sich von einfühlsamen Nahaufnahmen eines Liebespaares über nostalgische ‚Coming of Age‘-Geschichten, hastig-direkten ‚Handheld‘-Aufnahmen bis hin zu elegant auskomponierten Kamerafahrten. Demnach überraschte es nicht, als der – auch das wurde in allen vorangehenden Reden hervorgehoben – oscarprämierte Regisseur Stefan Ruzowitzky Neuenfels in seiner Laudatio als „Universalisten“ bezeichnete. Als Beispiel dafür zog der Österreicher die gemeinsamen Arbeiten heran: Im Oscar-ausgezeichneten Holocaust-Drama Die Fälscher aus dem Jahr 2007 haben sie sich gegen eine harmonische ‚Schuss-Gegenschuss‘-Inszenierung entschieden, da die Kamera demnach bei Gesprächen allein physisch auch auf Seiten der Nationalsozialisten gewesen wäre. Entgegen einer Ästhetik als Selbstzweck stürze sie sich vielmehr in das Getümmel als nervöse, unmittelbare Mitspielerin, die nicht auf der schönen, sondern auf der richtigen Seite zu stehen habe. Die dabei verwendeten authentischen Handkamera-Aufnahmen waren Produkt von Neuenfels‘ Vorbereitung und seinem improvisatorischen Instinkt. Der 2021 erschienene Film Hinterland war dagegen eine Übung im expressionistischen Umgang mit computergenerierten Bildern. Bis auf die Emotionen war nichts real, der komplette Film wurde vor blauen Hintergründen gedreht, die erst im Nachhinein zu Kulissen bearbeitet wurden. Auch dieser Herausforderung stellte sich Neuenfels mit seinem Team und es wird deutlich, um was für eine experimentierfreudige Gruppe an Filmmachenden es sich hier handelt.

Unter tosendem Applaus betritt Neuenfels selbst – buntes Shirt unter dem Sakko, schwarze Hose, beige Schuhe, eine Brille auf dem Kopf, eine vor den Augen – die Bühne. Er schäme sich ein bisschen. Diese Veranstaltung sowie das vorhergehende zweitägige Programm waren für ihn „zu viel Neuenfels“. Um diese Zentriertheit aufzulösen, holt er sein Team namentlich auf die Bühne. Ein schöner Moment, der jedoch die Unzulänglichkeiten der Preisstruktur entblößt. Warum in allen Reden den kollektiven Kern der Filmarbeit hervorheben, aber dann trotzdem nur Neuenfels auf die Urkunde schreiben? Zielt die Erwähnung, dass er mit seinem Team angereist ist, nicht auch letztendlich auf ein Lob von Neuenfels‘ Bescheidenheit? Hätte er nicht direkt mit seiner gesamten Gruppe die Bühne betreten müssen? In seinen abschließenden Worten betont der Bildgestalter die Position der Bildsprache als eine international verständliche Ausdrucksform, deren Menschlichkeit bewahrt werden müsse. Vielleicht könnte jene Menschlichkeit stärker respektiert und repräsentiert werden, indem mehr Menschen hinter der Kamera hervorgeholt und gewürdigt werden, um sich so ein Bild von der Welt hinter der Kamera machen zu können.     

(Lektoriert von hab und lab.)

ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 23 Jahre alt.

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