Sneak-Review #238: Das Rätsel

Sneak-Review #238: Das Rätsel

Design: Rebecca Größ-Ahr

Die Meinung von Joannis Kiritsis

Eine Lösung ohne Rätsel

Es könnte der Anfang eines morbiden Witzes sein: Kommen neun Übersetzer:innen in einen Bunker, um dort den neuesten Teil der erfolgreichen, von einem unter Pseudonym anonym bleibenden Autor verfassten Thriller-Reihe Daedalus zu übersetzen. Betritt der Verleger Eric (Lambert Wilson) den Raum und teilt ihnen mit, dass niemand den Ort vor Vollendung der Arbeit verlassen darf. Niemand lacht. Als dann der Verleger plötzlich eine E-Mail erhält, in der eine:r der anwesenden Übersetzer:innen damit droht, das Manuskript vorher zu veröffentlichen, weicht der Witz einem Mysterium, das unter zunehmendem Druck gelöst werden muss. Wer versucht, den Verleger zu erpressen? 

Cluedo ohne Clue

Das Rätsel (im frz. Original: Les Traducteurs) möchte sich als elegantes ‚Who dunnit‘-Kammerspiel verstehen, als ein zu lösender Fall, bei dem die Zuschauenden als zusätzliche Detektiv:innen mitermitteln können. Dabei sind sie natürlich keine rein autonomen Subjekte, sondern, bis auf mögliche Spekulationen, an den Informationshorizont des Filmes gebunden. Dieser scheitert jedoch an der Art, wie und wann er seine wichtigsten Informationen vermittelt. Er präsentiert, trotz seiner interessanten Prämisse, kein spannendes Mysterium, sondern eine Aneinanderreihung an Enthüllungen, die sich nicht kohärent aus dem vorhergehenden Handlungsverlauf ergeben. Das Rätsel möchte seine Zuschauerschaft primär überraschen und sie nicht mit in die nachvollziehbaren Mechaniken des Geheimnisses ziehen. Die Unausgewogenheit des Informationsflusses führt in vielen Momenten dazu, dass die neuen Informationen spätere Szenen in ihrem Spannungsaufbau entkräften, da sie schlicht zu viel verraten.    

Passend zum Genre sind die Figuren keine komplexen Persönlichkeiten, sondern definieren sich über ihren Bezug zum, nun ja, Rätsel. Informationen über ihr bisheriges Leben, die aufgrund der Vielzahl an Figuren sowieso spärlich ausfallen, sind nur relevant, insofern sie mögliche Motive entschleiern. Doch auch in dieser Hinsicht schafft es Das Rätsel nicht, die unterschiedlichen Hinweise kohärent zu erzählen. Welche der Figuren nun eine tiefergehende Aufmerksamkeit erhält und welche nicht, ist völlig willkürlich und nicht aus der Haupthandlung ableitbar. Was ein erfrischend experimenteller Ansatz sein könnte, wird im weiteren Verlauf des Films als bloße Ziellosigkeit spürbar. Die aus den für den Verleger umsatzstärksten Ländern stammenden Übersetzer:innen bleiben fast alle genau das: ungelenke Übersetzungen echter Menschen, Skizzenexistenzen, die hauptsächlich mit ihren jeweiligen Landesfahnen assoziiert werden. Nur der, natürlich, englische Übersetzer Alex (Alex Lawther) entwickelt eine die restlichen Figuren verdrängende Präsenz. So verkommt der Film unter der identitätslosen Inszenierung des vorher in Liebesfilmen erprobten Regisseurs Régis Roinsard besonders in der zweiten Hälfte zu einer reinen Erklärparade, die das eingangs präsentierte Mysterium völlig erstickt. Das Rätsel präsentiert sich wie ein Puzzle, ist aber eigentlich nur eine Übung im Malen nach Zahlen, die die Zuschauenden nicht einmal selbst ausführen dürfen. 

Die Meinung von Naomi Zander

Selten, aber nicht unmöglich: Ein Thriller, der zum Nachdenken anregt

Wie der Originaltitel Les traducteurs (dt.: Die Übersetzer) bereits vermuten lässt, geht es in dem französischen Thriller um die Kunst der Übersetzung. Das literarische Schaffen der Übersetzer:innen bleibt jedoch Nebenschauplatz. Subtil, aber doch eindringlich und unverkennbar gelingt es dem Regisseur Régis Roinsard, ein bislang noch wenig filmisch verhandeltes Thema zu bearbeiten: Das Spektakel, das sich außerhalb des literarischen und künstlerischen Schaffensprozesses abspielt. Genauer gesagt verhandelt er eindrücklich jene Widersprüche und Reibungen, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen Literatur und dahinterliegenden Profitinteressen ergeben. 

Ein Übersetzungsauftrag mit tödlichen Folgen

Alles beginnt mit einem Übersetzungsauftrag, für den keine Kosten und Mühen gescheut werden. Neun Übersetzer:innen werden in einem Luxus-Bunker untergebracht, in dem sie ohne Kontakt zur Außenwelt den dritten Band einer Trilogie übersetzen sollen, der noch unter Verschluss gehalten wird. Der Verleger Eric Anstrom glaubt – im Besitz des Manuskriptes – den Deal seines Lebens geschlossen zu haben. Er wacht nun über die Übersetzer:innen und hütet das Manuskript mit höchster Vorsicht. Mit dem Betreten des Bunkers werden die Übersetzenden Teil einer Parallelwelt, in der die Gesetze des Verlegers herrschen. Doch dann werden, allen Vorkehrungen zum Trotz, die ersten zehn Seiten des Manuskriptes geleakt und Anstrom wird erpresst, eine exorbitante Geldsumme zu zahlen, um weitere Leaks zu vermeiden. Spätestens ab diesem Punkt verschwindet die professionelle Distanz zwischen den Figuren. Es wird schnell klar: Eine:r der Anwesenden muss hinter der Erpressung stecken.

Thriller mit pointierter Gesellschaftskritik 

Den Zuschauenden wird suggeriert, dass nun eine Suche nach dem:der ominösen Erpresser:in beginnt. Doch überraschend wird in der Mitte des Films offenbart, wer hinter dem Leak steckt. So unerwartet die Enthüllung, so fesselnd wird der Spannungsbogen weitergesponnen. Die Situation spitzt sich weiter zu, indem Misstrauen und Schuldzuweisungen ausgesprochen sowie stille und laute Kämpfe ausgetragen werden. Angefacht durch den panischen Verleger, wird die Dynamik hitziger – zeitgleich beginnt ein Machtringen zwischen ihm und den Übersetzenden. Die anfangs klar gesetzten Machtdynamiken kehren sich um. Denn der Verleger verliert mit dem Leak des Manuskriptes sein einziges Kapital und somit auch seine machtvolle Position. Diese Zuspitzung ähnelt einer Folge Black Mirror, in der man regelmäßig glaubt, den Höhepunkt der Absurditäten erreicht zu haben. So übertrieben das Handeln der Figuren scheint, bleibt ebenso wie bei der beliebten Science-Fiction-Serie, ein bitterer Beigeschmack und die Zuschauer:innen werden mit den unangenehmen Realitäten unserer Zeit konfrontiert (interessanterweise war Alex Lawther, der einen der Übersetzenden verkörpert, ebenfalls 2016 als Hauptrolle einer Folge Black Mirror zu sehen). Der Nachhall des Films hinterlässt große Fragen: Wie kann das Verhältnis von geistigem Eigentum und monetären Interessen verhandelt werden? Wie viel wert sind die Rechte von Künstler:innen an ihrem Werk? Welche Folgen hat die Vermarktung von Kunst? Und wer profitiert von ihr am meisten? Aber auch: Fällt der Literaturbetrieb einer immer digitalisierteren und schnelllebigeren Gesellschaft zum Opfer?

Die Übersetzungskunst erfährt außerdem innerhalb des speziellen Settings ihre gebührende Aufmerksamkeit. Hierbei ist es faszinierend zu sehen, dass die Gruppe der neun Übersetzenden in ihren Charakteren, wenn auch leider an vielen Stellen stereotypische Repräsentationen ihrer jeweiligen Nationalität, unterschiedlicher nicht sein könnten – alle eint jedoch das Schicksal der „in der zweiten Reihe Tanzenden“ und als Gruppe jener, deren Namen stets überlesen werden. 

Dem französischen Thriller, der in Frankreich bereits 2019 in den Kinos erschien, gelingt es, mithilfe eines scheinbar absurden Szenarios, brandaktuelle und relevante Themen aufzuwerfen. Auf eine fesselnde Art und Weise werden Machtverhältnisse und Hierarchien in Arbeitsverhältnissen sowie die Rolle, die Kunst in diesem Spannungsverhältnis einnimmt, behandelt. Und im Nachklang wird klar: Die offenen Fragen, mit denen die Zuschauenden zurückgelassen werden, sind schließlich nicht mehr in der Ferne, sondern erschreckend nah an den Lebensrealitäten aller Menschen.

Des Rätsels Lösung: Das Rätsel wurde zu 75% positiv und zu 25% negativ bewertet und kommt am 1. Juni in die deutschen Kinos. 

(Lektoriert von noo, let und hab.)

ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 25 Jahre alt. Liebt schiefe Vergleiche.

ist im Mai 2023 neu eingestiegen in die Redaktion des Philipps-Magazins. Seit 2021 (mit Unterbrechungen) im Masterstudium der Friedens- und Konfliktforschung in Marburg.

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