„Drifter“ von Ulrike Sterblich – Eine Rezension

„Drifter“ von Ulrike Sterblich – Eine Rezension

Grafik Buchcover: Rowohlt Verlag

Im Oktober 2023 wurde der Deutsche Buchpreis verliehen. Die sechs Bücher, die es auf die Shortlist geschafft haben, hat die PHILIPP-Redaktion unter die Lupe genommen. Drifter von Ulrike Sterblich ist eines davon, hat aber – Spoiler – den Buchpreis nicht gewonnen. Das macht nichts; unsere Redakteurin ist von der lockeren Sprache, dem subtilen und gesellschaftskritischen Humor Sterblichs begeistert, der eine Erzählung formt, die von nichts und allem handelt.

Wenzel Zahns Beziehung zu seinem Kindheitsfreund Killer übersteht alles, das gemeinsame Ausziehen aus dem Elternhaus, das Erwachsenwerden, einen Blitzschlag und dass Killer wieder im Hause seiner Mutter einzieht. In der Hochhaussiedlung im Ranunkelring am Stadtrand sind sie aufgewachsen, Killer und Wenzel. Ranunkelring – die Straße heißt so eigenartig, wie die Verstrickungen der Erzählung in Drifter anmuten, und Verstrickungen gibt es viele. Sehr viele Erzählstränge, die aufgenommen und fallen gelassen werden: Der Nachbar von Wenzel, der immer wieder Pakete bei ihm abgeben lässt und der ihn auf eine Party einlädt. Wenzel knüpft eine Freundschaft zu einem, der in der Oper arbeitet und ihn mit einem ungewöhnlichen Kostüm aus dem Fundus der Oper für eine Party ausstattet. Wenzel verbringt sehr viel Zeit in einem anonymen Internetforum und arbeitet bei einem öffentlichen Sender. Und dann wird Killer vom Blitz getroffen. 

Jeder Tag ist ein Nimmerland voller Pilzwucherungen

Zuvor die PR-Chefposition eines großen Lebensmittelunternehmens anstrebend, Lady’s Man und mit sehr viel Charme ausgestattet, weiß Killer danach nicht mehr so viel mit seinem alten Ich anzufangen. Er ist lustlos, kündigt seinen Job, zieht in den Ranunkelring zurück. Während Wenzel seit Langem sehr unglücklich – mal wieder, so scheint es – in seine Kollegin Gesine verliebt ist, lernen die beiden Freunde Vica kennen, vielleicht oder vielleicht nicht zufällig, das wird nicht klar. Nichts in diesem Roman ist klar, alles ist einfach da: Die Funktion Vicas in diesem Roman ist zu Beginn zum Beispiel so unklar, dass es verwirrt. Um sie herum geschieht Sonderbares, vielleicht sogar Magisches, was jedoch nicht in das realistische Setting des Romanes zu passen scheint. Wir wissen bis zum Schluss nicht ganz, was es mit ihr, ihrem Unternehmen und ihrer Crew auf sich hat. Wir wissen nur, dass sie mit mehr Spaß und Leichtigkeit lebt als Wenzel. Er ist fasziniert von Vicas Charme, von ihren auffälligen Kostümen, von ihren glitzernden Partys und der Art, wie sie Menschen animiert. Sie spielt – ohne Konsequenzen zu fürchten. Jeder Tag ist ein Nimmerland, das es zu erkunden gilt.

Die Dame mit dem goldenen Kleid begegnet Wenzel und Killer im Zug erstmals, kurz bevor Killer vom Blitz getroffen wird. Mit ihren Fingern zeichnet sie einen Blitz in die Luft. Dabei hält Vica ein bisher unbekanntes Buch von Wenzels Lieblingsautoren in der Hand, der namensgebend für den Roman K. B. Drifter heißt. Das Buch ist noch nicht auf dem Markt. Als Wenzel es dann doch bei einem Buchhändler vorbestellen kann, es abholen will und der Buchhändler ihm dann sagt, dass es das Buch nicht gebe, wird Wenzel stutzig. Nach und nach taucht Vica bei verschiedenen Anlässen (meist Partys) auf, manchmal will sie danach niemand gesehen haben, oft begleitet von einem zotteligen Hund, fast immer extravagante Kleider am Körper und gefolgt von Pilzwucherungen mit magischen Fähigkeiten an seltsamen Stellen wie Schubladen oder in Smart-Watches.

Social-Media-Communitys und Menschenhass

Ulrike Sterblich ist nicht nur als Berliner Autorin von Romanen wie The German Girl, sondern auch von komödiantischen Sachbüchern wie Von Okapi, Scharnierschildkröten und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium bekannt. Außerdem ist sie Politologin. Die politische Expertise und ihr Humor machen sich in ihrem neusten Roman, Drifter, bemerkbar – die Autorin formuliert die teils so tiefgehenden gesellschaftskritischen Beobachtungen so unbeschwert und amüsant, dass sie im Kontext der leicht verständlichen Sprache überraschen. Sie regt regelmäßig zum Nachdenken an und dann enden die Gedanken im Nichts. Die kritischen Analyseansätze werden nicht verfolgt, sondern wachsen wie Moos auf Baumstämmen zwischen den Buchstaben heran, so als gehörten sie dahin.

Wenzel führt zum Beispiel eine Liste mit den Filmen, die er noch schauen will, und die wird so beschrieben: „Aber je weiter die Listen ausuferten, desto mehr wurden sie zu Mahnmalen eines schockierenden Missverhältnisses zwischen Lebenszeit und Wissensdrang“ – man fühlt sich vielleicht sogar ertappt, wenn man auch so eine Liste pflegt, die beständig wächst. Die Beschreibung von Killers Veränderung nach dem Blitzschlag ist hier ebenfalls zu nennen, die eben auch nicht nur belustigt: „Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hatte das Geschirr neu sortiert.“ An einer Stelle nervt die versuchte Lockerheit bloß, weil sie es mit ihren Eigenheiten übertreibt: Killer und Wenzel würden seit jeher das Smartphone als „Smarti“ bezeichnen, weshalb der Ich-Erzähler Wenzel dieses Wort die gesamte Erzählung lang nutzt. 

Die Ironie verteilt sich hingegen mühelos wie Sprühfarbe in diesem Buch – zufällig und mindestens ein winziger Klecks landet überall. Genau richtig also, die Verteilung, welche die Lektüre zu einem vergnüglichen und kurzweiligen Erlebnis machen. Ein solcher Flecken landet zum Beispiel auf der Klassenkritik, die das unglückliche Liebesverhältnis zu Gesine schmückt. Im Gegensatz zu ihm arbeitet sie als Redakteurin im Sender und hat an einer Journalist*innenschule einen sehr guten Abschluss erhalten: „Mir fiel sie gleich auf, selbstbewusst und stilsicher, wie sie war. Auch erkannte ich sofort die höhere Tochter, was leider immer wieder ein Trauma bei mir aufscheuchte.“ Im weiteren Verlauf beschreibt Wenzel, dass die höheren Töchter, die er vergebens vergötterte, anders als er – Sohn einer Kleinbürger*innenfamilie – früh mit Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bücherregalen aufgewachsen sind. Diese Töchter hätten einen anderen Habitus, verständen die subtilen Codes einer Klasse, der Wenzel nicht angehörte. Während sie sich hocharbeitet und einen Liebhaber ergattert, der als Wintersportler berühmt in der Medienlandschaft ist, schaffte er es, „sich an einen Ort zu manövrieren, wo man bei minderer Bezahlung einen schleichenden Menschenhass entwickelt“: Er arbeitet in dem Team, das die Social-Media-Community verwaltet. 

Die Wichtigkeit einer Freundschaft und ihrer Kontingenz

Die subtilen Ansätze einer Klassen- und Medienkritik sind einer vermutlich linken Leser*innenschaft weder neu, noch werden sie umfassend aufgearbeitet. Das wirkt erst plump, weil es beispielsweise durch die Formulierung des ‚Smarti‘ erzwungen scheint. Wenn man es jedoch schafft, die ersten zehn Seiten zu überstehen, versteht man die Funktion der Gleichgültigkeit des Ich-Erzählers gegenüber seinen gesellschaftskritischen Beobachtungen und eigenen Leben. Wie die Ironie gehört es zu seinem Erzählton – es gehört zu seiner Art des Denkens: So wie jedes Kind ausnahmslos in die erste Klasse gehen muss, ist alles in diesem Roman, inklusive Wenzel, bloß anwesend, nicht sonderlich bedeutsamer als Anderes, weswegen Wenzel restlos alles mit Humor nehmen kann. Das ist sehr erfrischend: Während Krise, Krieg, Rechtsruck, Streit in der Ampel, Liebesbeziehungen zwischen Politiker*innen die Zeitungen und der Wettkampf zur Selbstverwirklichung und -verbesserung die Social-Media-Kanäle füllt, bereitet es Freude, dass ein Buch für 288 Seiten eine Auszeit von der Wichtigkeit von allem und allen verschafft. Das zeigt sich auch daran, dass die Autorin magische Elemente aus Spaß an deren Willkür in die Erzählung einstreut. Von allen möglichen Erzählsträngen handelt der Roman: von magischen Pilzwucherungen, von der Wichtigkeit einer Freundschaft, von Medienkritik sowie leichter Klassenkritik, aber auch von ihrer Beiläufigkeit, ihrer Kontingenz, also von nichts anderem als der Existenz als Zufall.

Ein Rezensionsexemplar wurde der Redaktion vom Verlag bereitgestellt. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text wurde dadurch nicht beeinflusst.

(Lektoriert von jok, lurs und hab.)

studiert im Master 'Soziologie' und 'Literaturvermittlung in den Medien'. Seit 2022 in der Redaktion sowie im Lektorat aktiv und seit Januar 2023 Chefredaktion von PHILIPP.

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