Keine zweite Chance für Jedermann

Keine zweite Chance für Jedermann

Foto: Jan Bosch, Collage: Laura Schiller

Ein Feuerwerk zum Abschluss: Die letzte Premiere der Spielzeit des Hessischen Landestheater Marburgs (HLTM) ist vorüber und so auch das Leben von Jedermann, der Hauptfigur des gleichnamigen Stücks von Hugo von Hofmannsthal. Die Aufführung des Sommertheaterstücks unter der Regie von Theaterintendantin Carola Unser-Leichtweiß fand auf dem Firmaneiplatz statt, mitten in der Stadt, mitten in der Gesellschaft, die in dem bekannten Drama keine kleine Rolle spielt.

Als Hugo von Hofmannstahls Drama Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes 1911 uraufgeführt wurde, hat er sicherlich nicht damit gerechnet, dass eine überdimensionale Palme, rosafarbene Perücken und vergoldete Bobbycars genauso Teil der Inszenierung werden wie Lieder der Pop-Ikonen Lady Gaga, Madonna, Britney Spears und ja, Nina Chuba. Aber das HLTM wäre nicht das HLTM, wenn nicht jede Sommertheateraufführung das reinste Spektakel im positivsten Sinne wäre. Man erinnere sich an die singenden Bennett-Schwestern in Stolz und Vorurteil* (*oder so), die fünf Alices in Alice im Wunderland oder den Wollnashorn-induzierten Fiebertraum 800 (Das Theaterstück) oder Rosenwunder Premium Reloaded.

In diesem Jahr wird dieses „allzeiten gehörige und allgemeingültige Märchen“ gezeigt. „Vielleicht ist es das letzte Mal, vielleicht muss es nochmal geschehen“, sagen die vier Spielansager*innen, die eine Art Erzählinstanz bilden, zu Beginn. Da Jedermann jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wird, ist damit zu rechnen, dass es nochmal auf die Bühne kommt. Aber wahrscheinlich nie wieder so.

„Nun ist Geselligkeit am End, jetzt gehst vor Gottes Thron“

Doch die Geschichte, die erzählt wird, ist die gleiche: Gott will Gericht halten über die schlechten Menschen und beauftragt den Tod, den reichen Jedermann zu holen. Gott wird in der Inszenierung von etwa einem Dutzend weiß gekleideter Schauspieler*innen gespielt, die im Chor sprechen und sich bewegen und dabei ein beeindruckendes Bild abgeben. Im Kontrast dazu steht der Tod – in ein goldenes Gewand gehüllt, mit einer rosafarbenen Perücke mit Micro-Bangs und einer Sonnenbrille, hinter der sich milchige Augen verbergen. „Wenn keine Liebe da ist, nehm‘ ich ihn mit“, verspricht er und macht sich auf den Weg zu Jedermann. Dieser kommt gerade mit seiner Yacht wieder zu Hause an – eine riesige Requisite aus Stoff, die bei Erscheinen spontanen Applaus erntet. Und ein pinker Teppich wird für ihn ausgerollt.

Jedermann (Sven Brormann) prahlt von den Reichtümern, die er besitzt, doch als ihn Bettler und Schuldknechte um Almosen und Erbarmen bitten, hat er nichts als Spott und vielleicht einen Schilling für sie übrig. Seine Buhlschaft (Ulrike Walther) begrüßt ihn mit Küssen, mit seinem Gesell (Christian Simon) plant er den Erwerb eines Lustgartens, mit seinen Tischgesell*innen feiert er eine große Party, inklusive einer „Scream and Shout“ Tanz- und Gesangseinlage. Auch singt Jedermann in fast zynischem Selbst-Kommentar „Egoist“ von Falco – und klingt dabei auch wie er.

Doch dann, von Visionen begleitet, steht der Tod vor der Tür. Jedermanns letzte Stunde hat geschlagen. Wo gerade noch bunte Beleuchtung und Party war, ist jetzt kaltes Flutlicht und Stille. „Hie hilft kein Weinen und kein Beten, Die Reis‘ musst alsbald antreten“, sagt der Tod. Doch wen Jedermann auch anfleht, keiner möchte ihn auf seine Reise begleiten. Sein Gesell und seine Buhlschaft verlassen ihn, seine Blutsverwandten schauen nur lachend aus einem dem Platz angrenzenden Haus zu ihm herunter, selbst seinen Reichtum (Mia Wiederstein) kann er nicht ins Jenseits mitnehmen, da kann dieser noch so oft „Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel“ singen. Einzig seine personifizierten Werke (Bibiana Malay) bleiben ihm, doch sind diese wirklich so gut gewesen, dass er darin eine geeignete Reisebegleitung hat?

„Kommt in der Stadt kein andres gleich“

Jedermann ist eine gewaltige Produktion. Insgesamt waren mehr als 100 Leute an der Inszenierung beteiligt, inklusive aller Ensemble-Mitglieder des HLTM. Dazu zählen noch nicht die Sicherheitskräfte, die Markthändler*innen, die Kassenmitarbeiter*innen und viele weitere, die die Aufführung inmitten des Marburger Zentrums ermöglichen. Bei der Inszenierung wird gesungen, getanzt, fabelhaft geschauspielert – doch besonders alles, was drumherum ist, raubt den Atem. Die Kulisse des Firmaneiplatzes mit der angrenzenden Elisabethkirche wird wunderbar ausgenutzt, mal erscheinen Figuren auf der Balustrade der Kirche, mal schauen welche aus dem Haus heraus oder werden in den „Schuldturm“ gesperrt, alles ist mit bunter Beleuchtung atmosphärisch in Szene gesetzt.

Für die Aufführung wurde extra ein Teil der Deutschhausstraße abgesperrt, auf dem Platz eine Tribüne für das Publikum errichtet und ein kleiner Markt aufgebaut. Die Lage gewährleistet auch, dass man zwischendurch das städtische Leben zu hören bekommt, dass aus der Oberstadt herüberschallt und Vögel tief über den Platz fliegen, als wären sie Statisten. Das restliche Bühnenbild von Stefani Klie ist gleichzeitig maximalistisch und minimalistisch, denn viel braucht es eigentlich nicht auf diesem Platz, aber dafür sind dann die Requisiten überdimensioniert: die meterhohe Yacht, eine pinke Palme, die den Lustgarten repräsentiert und ein langer Tisch, an dem Jedermann Hof hält.

Besonders faszinierend sind die Kostüme von Jörn Fröhlich und Cansu İncesu Peterson sowie die Maske unter der Leitung von Grit Anders. Die reichen Roben von Jedermann, seiner Buhlschaft und seinen Tischgesell*innen, Gottes weiße Gewänder, die pinken Hörner des Teufels, das grüne Antlitz von Mammon, dem Reichtum, oder die pastellfarbenen Kostüme und Perücken der Spielansager*innen geben ein in sich harmonisches Farbbild ab (was insgesamt sehr rosa ist, wie auch die HLTM-Spielzeitfarbe 24/25) und strahlen wahnsinnigen Aufwand und Liebe zum Detail aus.

Trotz der teilweise ungewohnten Sprache des über 100 Jahre alten Originals ist die Inszenierung leicht verständlich. Die Fassung des HLTM ist modern und doch werktreu: Die Originalsprache wird gemischt mit Einordnungen und Zwischenwürfen, die zum Beispiel die Sprache erklären („Buhlschaft ist mittelhochdeutsch und bedeutet Geliebte!“ „Habibti!“ „Mi amor!“ „Schätzeken!“) oder das Geschehen kommentieren („Da muss man sich so anstrengen, im Versmaß zu bleiben“ und „Könnte das kurz jemand erklären, warum die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden? Könnte mir das vielleicht ein Mann erklären?“). So macht sich das Stück in einer Selbstspiegelung tatsächlich für ‚Jedermann‘ zugänglich.

Don’t go breaking my heart

Die vier Spielansager*innen (AdeleEmil Behrenbeck, Anke Hoffmann, Tobias Neumann und Faris Saleh) bieten dabei eine Erzählerstimme, die durch das Stück trägt und kontextualisiert. Auch schlüpfen die vier Darsteller*innen zwischendurch in andere Rollen. Durch nur wenige, gut gewählte Requisiten und dank ihrer sehr physischen Darstellungsweise wird trotzdem immer sofort klar, wen sie gerade verkörpern. Besonders beliebte Stars des Abends sind allerdings zwei ‚echte‘ Kinder (Frida Dilling und Ilsa Herzmann), die die Kinder von Jedermann und vom Schuldknecht spielen und auf goldenen Bobbycars hereingezogen werden. Sie meistern dabei nicht nur die schwierige Sprache, sondern kommentieren lässig nebenher noch Vaterschaft, und dass ihr „echter Vater“ sehr viel cooler sei als Jedermann, schließlich würde er mit ihnen Spaghetti Bolognese machen und Minecraft zocken.

Sven Brormann als Jedermann hält dabei das Stück mit seiner Präsenz zusammen. Eine Figur, mit der man sich eigentlich nur schwer identifizieren kann, wird durch ihn nahbar und zum Sympathieträger. Ganz verloren sitzt er nur noch im Hemd auf dem Boden und muss seinem Schicksal entgegentreten. Sein Gesicht spricht von seinem inneren Konflikt und der Ungewissheit, was ihn auf der anderen Seite erwartet. Georg Santner als der Tod ist in der Inszenierung eine immer präsente Gestalt. Er schreitet langsam und kalkuliert über die Bühne, starrt ins Publikum und beobachtet das Geschehen aus der Ferne. Selbst in der Pause bleibt er anwesend, geht durch die Menge, lässt Fotos von und mit sich machen und verzieht dabei keine Mine. Eine Performance, bei der es einem kalt den Rücken hinunterläuft.

Musik und Tanz tragen insbesondere zum Gelingen der Inszenierung bei. Gut gewählte Lieder unterstreichen die Narrative und kommentieren eher, anstatt überhandzunehmen, sodass es sich an keiner Stelle wie ein Musical anfühlt. Dabei ist ein großes Spektrum abgebildet, von dem mit der Orgel begleiteten „Like A Prayer“ bis zur großen „Abracadabra“ Gruppenchoreographie. Auch Beethoven, Chopin und Schubert kommen nicht zu kurz.

„Darf in gemeinem Mund nit sein, Verliert sonst seine verborgene Kraft“

Am Ende bleiben die Fragen, die das Drama aufwirft: Bin ich ein guter Mensch? Was macht eigentlich den Unterschied? Sind meine Werke genug? Was bleibt mir am Ende erhalten? „Und, wer ist jetzt der Jedermann?“ Schade ist es, dass das Stück, wahrscheinlich aus logistischen Gründen, nur dieses Wochenende auf dem Firmaneiplatz zu sehen ist. Es ist tatsächlich für ‚Jedermann‘, denn für jede*n ist etwas dabei und jede*r lässt sich gerne von der Performance, der Musik und der Atmosphäre mitreißen. Dafür spricht auch der ewig andauernde Premierenapplaus samt Standing Ovation. Doch Jedermann bekommt tatsächlich keine zweite Chance in diesem Jahr, auch wenn er sie nicht bräuchte, die Vorstellungen waren schnell ausverkauft. So muss es etwas bleiben, wovon man sich erzählt – als scheinbar die ganze Stadt zusammengekommen ist, um mitten im Zentrum, mitten im Leben, ein Stück Kultur nicht nur zu sehen, zu machen, sondern auch zu werden.

(Lektoriert von hab.)

schiller

ist 24 Jahre alt und studiert Literaturvermittlung in den Medien, sieht sich selbst aber immernoch als Anglistin. Sie weiß nichts über vieles, aber alles über Jane Austen. Seit November 2024 in der Chefredaktion tätig.

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