Landtagswahl: Gelb und Grün beißen sich – nicht nur farblich

Landtagswahl: Gelb und Grün beißen sich – nicht nur farblich

Fotos: Leonie Theiding

Am 08. Oktober findet die Landtagswahl in Hessen statt. Im Rahmen des Wahlkampfes haben sich neben den Spitzenkandidat*innen Lisa Deißler (FDP) und Tarek Al-Wazir (Grüne) auch die Bundespolitiker Christian Lindner und Robert Habeck im Marburger Cineplex blicken lassen und Fragen beantwortet. Um rauszufinden, wie viele Fragen wirklich beantwortet wurden und welche Partei sich eher um das Blickenlassen bemühte, war PHILIPP für euch dabei.

Marburg ist in Aufruhr, denn (oh Schreck) Christian und seine Gefolgschaft kommen in die Stadt. Auf unsere Anfrage zwecks Pressekarten wurde nicht geantwortet und da die FDP in Marburg nur von Montag bis Mittwoch ans Telefon geht, gingen wir auf gut Glück zur Veranstaltung und hofften, doch noch irgendwie Fragen einreichen zu können. Aber nein, am Eingang erfuhren wir, die FDP würde nie explizit Fragen der Presse beantworten, es könnte höchstens sein, dass Christian am Ende seines Vortrages gönnerhaft „noch Fragen?“ in die versammelte Runde fragt. „Schon gut möglich, dass er sich Zeit nimmt, der Christian wirft für sowas auch gerne mal seinen Zeitplan über den Haufen“, wurde uns süffisant grinsend verkündet. Aha. Also kein vorgesehener Raum für Pressefragen – ganz schön unseriös für eine so groß aufgezogene Veranstaltung, bei der eine Person aus der Bundesregierung anwesend ist. Also gehen wir einfach mit allen anderen rein, geben unsere Taschen ab und sitzen dann in einem roten Kinositz – ohne Popcorn und in Erwartung eines wirklich schlechten Films, der leider auch alle Erwartungen erfüllt … 

FDP-Spitzenkandidatin Lisa Deißler

„Früher hätten wir Freibier ausgegeben, damit die gegen uns demonstrieren“

Christian Lindner kommt fast 20 Minuten zu spät denn er hat natürlich einen superengen Zeitplan. Wahrscheinlich, weil er noch ein paar Leuten die unsichtbare Hand des Marktes näherbringen muss – oder so. Die ersten beiden Reihen sind mit der anzugtragenden Gefolgschaft Christians gefüllt. Sie schauen immer wieder nervös auf ihre teuer aussehenden Armbanduhren. Hinter uns sitzen zwei Männer, die sich lautstark darüber unterhalten, dass am Freitag ja Habeck in der Stadt sei, sie aber „für diesen Idioten“ sicher nicht den Tag im Labor ausfallen lassen würden – „der würde eh keinen graden Satz rausbringen“, tönt es nochmal von den Sitzreihen hinter uns. Dann kommt nicht Christian Lindner, sondern der Kinovorhang geht auf und uns stehen 2 schreckliche Minuten eines Imagefilms der Spitzenkandidatin Lisa Deißler bevor.

Unter‘m Strich sieht man durchgehend dynamische Fotos von Lisa Deißler, im Hintergrund erzählt sie uns, dass sie Hessen voranbringen wolle und wie zukunftsgewandt und fortschrittlich die FDP doch sei. Als sie dann sagt „wir müssen diverser werden“ und ein paar weiße, blonde Menschen lachend über den Bildschirm laufen, stellt sich mir auch das letzte Nackenhaar auf. Lisa Deißler verliert noch einige Punkte zur FDP, die eh schon alle kenne: Die Grünen verbocken alles, wir brauchen Fortschritt und liberale Antworten und so weiter und sofort. Sie schließt mit den Worten: „Mittelmaß reicht mir absolut nicht.“ Auch wenn die Organisation der Veranstaltung schon sehr nah an mittelmäßig herankommt, wie wir finden. Schließlich kommt er dann doch noch – der Christian.

Er springt auf die Bühne und fordert, dass das Licht heller gemacht wird, weil er sein Publikum ja auch sehen will, wie er sagt. – hahaha… Volksnah und locker aus der Hüfte, wie immer. Er geht auch direkt auf die Gegendemo vor dem Gebäude ein. „Ich freu‘ mich über die da draußen“, meint er leichthin und es wird schnell klar, dass er vermitteln will: ‚Ich nehm‘ das ganz locker und ‚die da draußen‘ eh nicht ernst‘. Die Demo wurde von der Organisation Seebrücke organisiert. Eine Organisation, die sich für Seenotrettungen einsetzt. Lindners Meinung nach sollten die Gelder, die durch die Grünen im Haushalt der Bundesregierung durchgesetzt wurden, um diese Organisationen zu unterstützen, komplett gestrichen werden. Da kann einem schon schlecht werden. Wie wenig Empathie unser Bundesfinanzminister mit Menschen hat, die aus purer Verzweiflung nach Europa fliehen! 

„Wachstum ist fair“ – fair

Demo vor dem Gebäude

Weiter meint Lindner auch, dass es wichtig sei, dass wir „wehrhaft bleiben“, die Bundesweh soll also mehr Geld kriegen; war da nicht irgendwas mit 100 Milliarden Euro, die die Bundeswehr erhalten hat…??? Lindner findet, dass alle anderen Parteien eine „geschmäcklerische Ablehnung gegenüber Wachstum“ hätten. Denn laut ihm ist nur Wachstum fair, weil man dann ja niemandem etwas wegnehmen müsste – ist das nicht das Prinzip von Steuern? Aber Christian – darum geht es doch, Reichen etwas wegnehmen, damit andere überhaupt erst die Chance auf Wachstum haben. In Lindners Realität hat in dieser Gesellschaft wirklich jede*r die absolut gleiche Chance auf alles.

Lindner sprach auch über Armut, was in sich schon einen fahlen Beigeschmack hat, denn Christian musste sich wahrscheinlich noch nie über genügend Essen oder die Miete Gedanken machen. Er findet nämlich, dass es keinen Zweck hat, armen Familien Geld zu geben, weil die nicht eigenverantwortlich und sinnvoll mit diesem Geld wirtschaften könnten. Aufgrund von „Sprachbarrieren und so“. Und ich meine – wo kämen wir denn hin, wenn wir den armen Eltern Geld für ihre Kinder geben würden? – aber Erbschaftssteuer soll verringert werden, sagt er.

Finanzminister Christian Lindner (FDP)

Die Erbschaftssteuer findet Lindner richtig blöd, weil laut ihm große Erben sowieso nur zwischen familiären, mittelständischen Betrieben von Generation zu Generation wandern würden. Und was würden diese armen Betriebe ohne das Geld machen, sie wären ja investitionsunfähig. Aber über welche Beträge reden wir hier? Millionen von Euro, bei denen es durchaus verkraftbar ist, etwas abzugeben. Ich glaube der Christian hat das Prinzip Umverteilung noch nicht so ganz verstanden, denn laut ihm ist das Geld nur gut umverteilt, wenn es wieder bei den Reichen landet. Und man bedenke – er ist halt auch einer von diesen. 

Puhh

Lindners Vortrag war insgesamt sehr auf „Slogans“ und Polarisierung ausgelegt, so rief er in den Kinosaal: „Entweder du bist qualifiziert oder auf der Flucht, einen dritten Weg gibt es nicht nach Deutschland“ – keine Differenzierung, eine (vermeintlich) einfache Lösung eben, die auch sofort Applaus erntete. 

Schließlich rief er auch dazu auf, eine demokratische Partei zu wählen, allerdings zählte er als Grund gegen die AfD einzig und allein auf, dass die AfD Deutschland aus der EU drängen wolle und die sei ja unser größter Absatzmarkt. Weil das ja der einzige Grund ist diese menschenfeindliche und faschistische Partei nicht zu wählen… oder? Der Versprecher „deshalb darf man die Afd niemals nie wählen“ hat das Ganze dann auch nicht mehr besser gemacht. Und dann ging es natürlich auch um Leistung. Noten dürften auch keinen Fall abgeschafft werden, denn wenn Leistung nicht mehr messbar ist, erbringt sie auch keine*r mehr und wo bleibt denn dann das Wachstum, das uns alle retten soll…? 

Die Grünen        

Die Grünen zogen ihre Veranstaltung weitaus professioneller auf. Es gab Pressekarten und Tickets im Voraus und eine Möglichkeit Fragen einzureichen. Das taten wir auch und zwar Folgende:

  1. 37,9% (laut Statistischem Bundesamt) der Studierenden waren 2021 armutsgefährdet. Wie wollen Sie das ändern? Bafög funktioniert offensichtlich nicht/schlecht.
  2. Viele Fachbereiche an Unis sind verschuldet. Wer ist dafür verantwortlich und wie kann das gelöst werden?
  3. 37% (Br24) der Studierenden fühlen sich emotional erschöpft. Bei Frauen sind es sogar 44% (Br24). Sind 6 Semester Regelstudienzeit einfach zu kurz? Kommt eine Verlängerung in Frage? 
  4. Wieso sind Praktika meinst unter-/bzw. unbezahlt, auch wenn Praktikant*innen teilweise fertige B.A. oder M.A. Abschlüsse vorweisen können. 
    Man muss sich ein Praktikum „leisten können“, obwohl es Teil des Bildungsweges ist.

Leider wurde nur gelost, welche Fragen dann auch wirklich auf der Bühne zur Sprache kommen, angeblich um die Diskussion flüssig zu halten. Na, ja. Unsere Fragen kamen nicht dran. Aber immerhin konnten wir Fragen stellen im Gegensatz zur Veranstaltung der FDP am Tag zuvor. Insgesamt war die Stimmung sehr viel gesetzter und ruhiger als bei Lindner: Der kam, gab seinen Vortrag ab und verschwand wieder. Nicht, ohne noch ein paar Selfies mit seinen Fans zu machen, dafür war dann doch noch Zeit. Der Saal war bei den Grünen auch weitaus besser gefüllt, als bei Lindner, einige Menschen kamen gar nicht rein. Wir bekamen mit, wie jemand hinter uns in der Schlange behauptete, er hätte eine Einladung. Die Security allerdings meinte, der Saal sei jetzt voll und niemand käme mehr rein. Daraufhin verkündete der Abgewiesene: „Bitte? Dann wähl ich eben jemand anderes!“, drehte sich um und ging. Wenn die politische Haltung von Menschen so stabil ist und von einer angeblichen Einladung (vielleicht hatte er einfach die Mitteilung zur Veranstaltung per Mail erhalten?) abhängt – Prost, Mahlzeit. 

Habeck kam pünktlich und es gab auch keinen unangenehmen Imagefilm. Die Spitzen- und Direktkandidatin Angela Dorn und Tarek Al-Wazir waren Habecks Vorredner*innen. Dorn spricht viel von Innovation und verkündet stolz, dass die Hochschulbauarbeiten in Marburg „jetzt so richtig losgehen“ – bald kein Asbest mehr…? Marburg soll außerdem einen „Innnovations- und Gründungscampus“ bekommen, damit die Innovation direkt nach Marburg kommt. Sie sprach auch vom privatisierten Uniklinikum. Ein Rückkauf sei unmöglich gewesen, man hätte allerdings einige Sicherheiten für die Angestellten erreichen können. Abschließend wiederholte sie immer wieder: „Vernunft statt Populismus“, das sei der Weg, den die Grünen gehen wollen. 

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne)

Tarek Al-Wazir fasst all die Ereignisse der letzten Jahre zusammen, die die Menschen verunsichert haben: Pandemie, Energiekrise, Krieg.

Grünen-Kanditat Tarek Al-Wazir

Er betont, dass er die Unsicherheit verstehen kann und dass man gerade jetzt darauf achten muss, die Demokratie zu schützen und im Gespräch zu bleiben, um Menschen auf dem Weg nicht zu verlieren. Denn diese Demokratie sei „nicht vom Himmel gefallen“. Das wird auch Habeck nicht müde zu betonen. Insgesamt ist seine Ansprache zwar auch sehr leidenschaftlich, manchmal überschlägt sich auch seine Stimme, aber inhaltlich weit mehr gemäßigt als Lindners. Habeck wirft nicht mit Slogans um sich, sondern differenziert Probleme und gibt auch zu, dass viele Dinge kompliziert sind und auch nicht einfach gelöst werden können. Dass es dabei aber umso wichtiger ist, Fronten nicht verhärten zu lassen, im Gespräch zu bleiben und die jeweiligen Unterschiede als Nährboden für gute Ideen zu sehen: „Unterschiede formulieren politische Aufträge“. Vor allem bei der Asylpolitik betont er das immer wieder, man müsse eine Mitte zwischen „Humanität und Ordnung“ finden. Es überrascht uns, dass auch er wieder die vermeintlich einzigen beiden Gründe für einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland erwähnt: Qualifikation oder Flucht.

Alle drei sind sich sehr einige darüber, dass der Wahlkampf generell „gruselig“ gewesen sei, dass es teilweise schlimm war, wie miteinander umgegangen wurde. Allerdings bleibt bei uns das Gefühl, dass die Grünen ihren Biss verloren haben – es war fast zu gemäßigt, zu wenig links für eine Partei mit dieser Geschichte. Die Partei versteht sich mittlerweile auch selbst als politische Mitte oder wollen es zumindest sein. Auch die Grünen betonen, dass die Menschen wählen gehen sollen und müssen, um die Demokratie zu schützen. Die Verunsicherung der letzten Jahren sei eine gute Grundlage für rechte und populistische Parteien, um zu verbreiten, dass die Grundannahmen der Demokratie falsch seien und diese „auszuhöhlen“. 

Zumindest in einem sind sich Habeck und Lindner also einig: Keine Haltung lässt im Zweifel Platz für rechte und menschenfeindliche Haltungen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir alle eine Haltung haben und diese auch in Form einer Stimme in die Gesellschaft einbringen. Es darf kein Platz für Hass und Hetze entstehen und jede fehlende Stimme schafft diesen Platz. 

(Lektoriert von let und jok.)

Seit Anfang 2023 dabei

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