Zwischen gewaltsamer Sprache und kaputten Figuren: MUNA – Eine Rezension
Grafik Buchcover: Luchterhand Literaturverlag
Auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises standen sechs Bücher, darunter auch MUNA oder Die Hälfte des Lebens von Terézia Mora. Selbst wenn es gegen Echtzeitalter von Tonio Schachinger verloren hat, ist es trotzdem ein Buch, das auch außerhalb der Seiten nachwirkt. PHILIPP war für euch auf der Buchmesse und konnte einem Gespräch mit der Autorin beiwohnen. Was sie über ihr Werk sagt und warum der Roman von mehr erzählt als einer Frau in emotionaler Abhängigkeit, erfahrt ihr hier.
Zarter Anfang? – Von wegen
„Das Buch fängt zart an“, kommentiert Terézia Moras Gesprächspartner Carsten Brosda, deutscher Politiker und Senator der Hamburger Behörde für Kultur und Medien. Doch von ‚zart‘ kann kaum die Rede sein, wenn ein achtzehnjähriges Mädchen in ihrem Heimatdorf Jüris (DDR) im Innenhof ihres Wohnkomplexes steht und sich die Kehle aus dem Hals schreit, da ihre Mutter kurz zuvor Tabletten mit Massen an Alkohol zu sich genommen hat. Viele Leser:innen geben das Buch nach ein paar Seiten Lektüre empört zurück, da die emotionale Abhängigkeit und die Gewalt bereits auf Seite eins starten, wie eine Mitarbeiterin in einer Buchhandlung PHILIPP erzählt.
Wir verfolgen Muna auf ihrem Lebensweg, der sie durch ihre Liebe für Kultur, Theater und Literatur zu einem literaturwissenschaftlichen Studium in viele verschiedene europäische Städte verschlägt. Sie versucht dabei alles auszuprobieren: verschiedene schlecht bezahlte Jobs und verschiedene Männer, auf die sie wegen ihrer Schönheit nicht lange warten muss. Ihre akademische Fokussierung auf das weibliche Schreiben und feministische Fragen bietet jedoch keinen Schutz gegen verschrobene und übergriffige Männer. Sie bewegt sich durch ein Geflecht kaputter Figuren, für die die Autorin, wie sie erzählt, eine besondere Faszination pflegt: „Der Moment der Selbstsabotage ist faszinierend!“ Kaputt sind tatsächlich alle, auf die Muna trifft. Magnus, ihre Jugendliebe, die Muna nach dem Mauerfall für sieben Jahre aus den Augen verliert, ist jedoch darüber hinaus bereit, sie in seine Kaputtheit zu zerren und davon abhängig zu machen.
Weltumfassende Prekärtheit
„Am liebsten möchte man Muna ununterbrochen schütteln: Warum tust du das? Warum entscheidest du dich so?“, meint Brosda zu Mora. Die Protagonistin „trifft zuverlässig falsche Entscheidungen“, wie die Autorin bestätigt. Die Figur Muna stand zehn Jahre lang bei der Autorin in der Pipeline, bis sie endlich aufs Papier durfte. Sie hat Zeit gebraucht, um über Frauen zu lernen. Ein sexistisches Konzept, dass sie zum Anlass dieses Buches nahm, war: ‚Frauen haben mehr Angst vor Erfolg als Männer.‘ Die Autorin empfindet zwar nicht so, doch verfolgt sie die Frage, an welchem Punkt es scheitert, wenn schöne und kluge Frauen es nicht schaffen, erfolgreich zu werden?
Munas Karriere als Literaturwissenschaftlerin scheint jedoch zumindest von außerhalb betrachtet sehr vielversprechend zu sein: Eine Chance jagt die nächste, die sie besonders von ihren Kolleginnen verschafft bekommt. Doch sind diese Chancen meist unterbezahlt und befristet. Die Autorin legt zwar in MUNA nicht den Fokus auf die Prekärtheit des akademischen Milieus und des Kulturbetriebs, es ist aber ein Fakt, den die Protagonistin akzeptieren muss, trotz ihres Widerstands. Magnus befindet sich zwar als Dozent im gleichen Bereich, die zwei Figuren gehen aber komplett unterschiedlich damit um: Seine Karriere bestimmt Munas und damit hat sie in ihrer Liebe zu ihm auch kein Problem. Sie ist bereit, ihm an jedes Ende der Welt zu folgen, selbst wenn es ihre Freundschaften, Doktorarbeit oder physische und psychische Gesundheit massiv negativ beeinflusst.
Unzuverlässige Worte der direkten Gewalt
Die Sprache, die die Autorin für Munas Lebensweg wählt, ist eine faszinierende. Überwiegend in Klammern gesetzt, erfährt man Teile ihrer Gedanken, ohne ersichtliche Dialogzeichen verschwimmen Teile ihrer Gespräche mit den zahlreichen Figuren, denen sie begegnet, ineinander und es ist irgendwann nicht mehr klar, wer eigentlich spricht. Die spezielle Erzählform des unzuverlässigen Erzählers ist eine sehr bekannte und größtenteils ausgereizte, doch Mora schafft es, in ihrer Sprache so zu verunsichern, dass auch kurzzeitig an Munas Lebendigkeit gezweifelt wird. Sie gibt einem zwar Einblick in ihre Gedanken, doch nie genug, um zu verstehen, was sie zu all diesen kaputten Figuren hinzieht. Das ist frustrierend und aufregend zugleich.
So können auch völlig verschiedene Leseerfahrungen entstehen: Die einen können das Buch kaum aus der Hand legen, weil Munas Undurchsichtigkeit so viele Fragen aufwirft, dass Antworten mit jedem Blättern sehnsüchtig erwartet werden. Die anderen benötigen immer wieder Pausen, um die Frustration zu verarbeiten und sich auf die nächste Gewalt-Szene emotional vorbereiten zu können. Denn Mora geht mit ihrer Leserschaft nicht zimperlich um. In ihrer Sprache ist kein Platz für Trost oder Aufmunterungen. Direkt und unverblümt schreibt sie Munas Leben nieder, wobei ihr einzelne Wechsel in der Gewaltperspektive exzellent gelingen.
„Ein Buch muss über eigene Grenzen hinauswirken“, erklärt die Autorin zum Ende des Gesprächs und genau das erreicht sie auch mit MUNA oder Die Hälfte des Lebens. Es fasziniert, frustriert und wirkt noch über die Grenzen der gebundenen Seiten hinaus.
Studiert Literaturvermittlung in den Medien in Marburg.
24 Jahre alt.
Beim PHILIPP seit Januar 2023 innerhalb der Redaktion und Lektorat aktiv.
Hat eine Katze, aber leider auch eine Katzenhaarallergie.