Oh, wie schön ist Kamera – Eine Reportage zum Marburger Kamerapreis 2022

Oh, wie schön ist Kamera – Eine Reportage zum Marburger Kamerapreis 2022

Für gewöhnlich strömen Menschen in Kinosäle, wo der Duft des Popcorns sie umgibt und sie das Rascheln der Tüten von allen Seiten begleitet, während sie in ferne Welten abtauchen, nur um anschließend in die eigene zurückzukehren und vermutlich nicht weiter über den Film nachzudenken. Am 05. Mai 2022 ist alles anders. Zu den 23. Marburger Bild-Kunst-Kameragesprächen und dem 21. Marburger Kamerapreis begeben sich keine Kinogänger:innen in den Saal des Capitols Marburg, die sich nur unterhalten lassen möchten. Filme werden hier nicht nur geschaut; sie werden besprochen, interpretiert und gefeiert. In diesem Jahr wird die französische Kamerafrau Claire Mathon für ihre herausragende und einflussreiche Kameraarbeit ausgezeichnet. Eine Frau, die von ihrer Arbeit spricht, als sei sie dazu berufen worden. Und der man ab der ersten Sekunde anmerkt, dass sie sich hinter der Kamera wohler fühlt als davor. Eine Virtuosin und die untrennbare Verbindung mit ihrem Werk.

Kameraarbeit: Kein Alleingang

Dreißig Menschen befinden sich im „Studio“-Saal des Capitol Marburg, als die diesjährigen Bild-Kunst-Kameragespräche eingeleitet werden. Es sind drei Tage, an denen die Kameraarbeit Mathons anhand ausgewählter Filme und anschließender Werkstattgespräche aufgearbeitet wird. Von Donnerstag bis Samstag werden acht Filme und Kurzfilme gezeigt, an drei davon schließt sich ein Werkstattgespräch an. Am Samstagabend schließt die Veranstaltung mit der Verleihung des Kamerapreises ab. Claire Mathon hält sich zunächst lange im Hintergrund auf, bis die Dankesreden auf Sponsor:innen beendet sind und Mathon für ihre Anreise gedankt wird. Sie tritt kurz hervor und verschwindet schnell wieder, nachdem sie ein schüchternes „Merci“ in das Mikrofon gesprochen hat. Sie ist der Mittelpunkt allen Lobs, aller Anerkennung und Faszination, die das Publikum und ihre Gesprächspartner:innen in den nächsten Tagen von sich geben. Sie bleibt stets bodenständig, kennt ihr Metier in- und auswendig und vermittelt ihre Liebe zum Film.

„Ich bin überzeugt, dass jeder Film seine eigene Identität hat“

„Petite Maman“ (2021), der neueste Film der französischen Regisseurin Céline Sciamma leitet in Mathons Filmografie ein. Dieser nach Science-Fiction anmutende Film über ein junges Mädchen (Joséphine Sanz), das eine Freundin (Gabrielle Sanz) findet, die ihre Mutter zu Kindheitstagen verkörpert, ist bereits die zweite Zusammenarbeit von Sciamma und Mathon. Zwei Tage später, als sie mit der Filmjournalistin Katja Nicodemus über die erste Zusammenarbeit „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (OT: „Portrait de la jeune fille en feu“, Céline Sciamma, 2019) spricht, erzählt sie, zwischen der Regisseurin und ihr habe nicht nur ein Austausch über Worte stattgefunden, sondern auch über Blicke. Filmemachen sei immer Teamarbeit, sagt sie. „Ich versuche mich mit der Regisseurin zu verschmelzen […], ihre Sichtweise einzunehmen, in ihre Welt einzutauchen.“ Das merkt man beiden Filmen an. Die Zusammenarbeit ist eine Synergie, die Regie ist ausgefeilt und präzise, Mathons Kameraführung ganz auf die Kinder und ihre Wahrnehmung fokussiert. Sie hält die Kamera stets auf Höhe der Kinderaugen und transportiert das Publikum in eine unscheinbare Welt abseits der Probleme Erwachsener.

Über die Bedeutung von Zusammenarbeit im zwei Jahre später erschienen Film „Spencer“ sagt Mathon im exklusiven Interview: „Wir müssen sie [Lady Diana] porträtieren, auch bei ihr sein, aber vor allem müssen wir in ihrem Innersten sein“. Diese Worte richtete Regisseur Pablo Larraín an sie in einem der ersten Gespräche zur Vorbereitung auf den Film, welcher „die Fabel einer wahren Tragödie“, ein Einblick in drei Tage von Lady Dianas (Kristen Stewart) Leben während der Weihnachtsfeier in der Sandringham Castle darstellt. „Ich bin sehr, sehr nah an ihr dran. Es ist beeindruckend und stressig so nah an ihr dran zu sein. Ich atme wirklich mit ihr, ich lebe mit ihr“, beschreibt Mathon ihre Verbindung zur Schauspielerin. Nicht nur die enge Zusammenarbeit mit der Regie ist wichtig, sondern auch die Annäherung und gegenseitige Abhängigkeit von Kamera und Schauspiel, sodass Diana als verletzte, einfühlsame Frau und eine Fremde im Kreise ihrer Familie dargestellt werden kann. „Mein Beitrag, meine Arbeit, war es, seine [Pablo Larraíns] Sicht auf sie [Kristen Stewart] zu verdeutlichen und gute Bilder, Belichtung und Farben zu finden, um letztendlich seine Arbeit zu erledigen.“ Claire Mathon fängt am Set nicht nur mittels Kameraaufnahmen den Film ein, sondern fungiert gleichzeitig als Bindeglied zwischen vielen Beteiligten, um ein stimmiges Gesamtbild zu erschaffen, das die Visionen und Leistungen aller einfängt.

Eine fordernde Kunstform

Vier Vorstellungen stehen am darauffolgenden Tag auf dem Programm. Die bekannten Gesichter vom gestrigen Tag tauchen wieder auf. Sie sind seit Jahren in der Branche tätig, gehören dem Beirat an, organisieren den Kamerapreis, studieren Medienwissenschaften oder haben vermutlich eine besondere Vorliebe zum Filmhandwerk. Der Kamerapreis verbindet die Menschen. Die Zuneigung zur Filmkunst und das Anerkennen von prägenden Szenenbildern ist der gemeinsame Nenner. Claire Mathon scheint sich beim ersten Werkstattgespräch zum Film „Der Fremde am See“ (OT: „L’inconnu du lac“, Alain Guirauduie, 2013) zunächst nicht allzu wohl zu fühlen. Das erste mal muss sie ins Rampenlicht, versucht eine angenehme Sitzposition zu finden und greift zögerlich zum Mikrofon. An der Seite von Hannah Pilarczyk sitzt sie auf der Bühne und stellt sich den Fragen des Publikums. Eine Simultanübersetzung hilft ihr, die Besonderheiten ihres Berufs in ihrer Muttersprache teilen zu können. Bei der Arbeit an „Der Fremde am See“, für den sie wochenlang nackte Männer filmte, habe sie sich entgegen der Erwartungen anderer wohl gefühlt.

Mathon vernachlässige ihre Umwelt selbst in introspektiven Momenten hinter der Kamera nicht, sagt sie. In freier Landschaft fühle sie sich Zuhause und ihre Arbeit mit natürlichem Licht vergleicht sie mit der einer Malerin, die auf das richtige Licht warte. „Man lebt und atmet die Aufnahmen. Man filmt mit den Augen, mit seinem Körper“, beschreibt die 47-Jährige ihre Herangehensweise. Sie erzählt, sie arbeite meist spontan und agiere geduldig. Sie scheue sich nicht davor, Dinge auszuprobieren, an ihre eigenen Grenzen zu gehen, um dem Film etwas Essentielles beizufügen. Und so entsteht mit der Zeit ein Gemälde auf der Leinwand, das nicht für alle perfekt sein mag, aber dem sowohl der Spaß an der Sache, als auch Mathons Konzentration und Leidenschaft angemerkt werden kann.

Brenne für dein Werk

Der Tag der Preisverleihung beginnt früh morgens mit einer Reise ins 18. Jahrhundert. Das Drama „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ erzählt die Geschichte zweier Frauen. Die Malerin Marianne (Noémie Merlant) reist auf eine Insel zu Héloïse (Adèle Haenel), die sich gegen ihre baldige Vermählung sträubt. Héloïse weigert sich außerdem, Modell für ein Porträt zu stehen, das die Verbindung zwischen ihr und ihrem zukünftigen Ehemann abschließen soll. Marianne muss sie fortan heimlich porträtieren. Die zwei Frauen verarbeiten in ihrer innigen Beziehung sowohl Freude als auch Schmerz und schaffen ein Bündnis, das nicht existieren darf, in dem aber trotzdem Leidenschaft steckt. Mathon war beeindruckt, gar mitgerissen von Sciammas Drehbuch und zögerte daraufhin nicht lange, die Kameraarbeit zu übernehmen. „Wir wollten uns anlehnen an die Porträtmalerei“, sagt sie im Werkstattgespräch. Es sollte ein kalter Film im Herbst sein, die Brise des Meeres sollte die Frauen zum Zittern bringen. Der Herbst, in dem die Dreharbeiten stattfanden, war wider Erwarten einer der schönsten, die es in der Bretagne jemals gab. Mathon reagierte spontan und versuchte, die Kälte trotzdem sichtbar machen. Die Schauspielerinnen mussten daraufhin Halstücher tragen und ihre Kleider wehten in einem Wind, der sie nicht zum Zittern brachte, dem Publikum dies aber suggerierte.

Mathons Arbeit besteht nämlich nicht nur darin, eine Kamera auf Schauspieler zu richten. „Man muss erst einmal zuhören, um dann zu reagieren und dann zeigen und vorschlagen zu können“, beschreibt sie die Herausforderungen ihrer Arbeit. „Man muss gleichzeitig Techniker, Ausdauersportler und vermögender Künstler sein“, zitiert Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die französische Kamerafrau viele Stunden später während der Preisverleihung.

Der letzte Film der Bild-Kunst-Kameragespräche ist „Atlantique“ (Mati Diop, 2019). Der Film begleitet den jungen Bauarbeiter Souleiman (Ibrahima Traoré) und seine Freundin Ada (Mame Bineta Sané), die bald eine arrangierte Ehe mit einem anderen Mann eingehen soll. Der Film taucht immer wieder ins Mystische und Fantastische ab. „Man merkt, wie sehr du versuchst, die Idee der Regie zu verstehen“, sagt Judith Kaufmann, Kamerafrau und Kamerapreisträgerin 2006, zu Claire Mathon im anschließenden Werkstattgespräch.

„Ich wollte eigentlich schon immer Kamerafrau werden“

Dabei muss Mathon nicht nur die Visionen der Regie verinnerlichen, auch die Musik ist wichtig. „Mich hat Musik manchmal auch ein bisschen im eigenen Rhythmus inspiriert“, sagt sie. „Ich bin mit meiner Kamera im Rhythmus der Musik gelaufen.“ Es macht den Eindruck, als sei Mathon ein Allroundtalent. Sie scheint die Gedanken der Regie zu lesen, spürt die Musik und lässt sich von ihrer Umgebung inspirieren, um im Einklang mit den Schauspieler:innen das Bild einzufangen. Kurz redet sie auch über Komplikationen am Set und gesteht sich ein, dass ihre Sichtweise trotz ihrer offenen Haltung manchmal eingeschränkter sei, als sie gedacht hat. Dann ließ sie sich von Regisseurin Diop die Sonnenuntergänge Dakars zeigen und nahm andere Perspektiven ein. Sie sagt: „Ich versuche jedes Mal in einem Film, die Kamera neu zu finden. Ich wechsle gerne den Ansatz, ich suche gerne.“ Mathon spricht von einer Passion, der sie nachgehe und sagt dem Publikum, Bilder solle man nicht nur machen, sondern erleben. Wäre sie keine Kamerafrau geworden, fehlte der Welt womöglich ein großes Talent der Filmkunst.            

Der Vorhang fällt

Der Moment ist gekommen. Am Samstagabend bildet sich eine Schlange vor Saal 4. Kein Blockbuster, Horror- oder Actionfilm, der die Massen anzieht. Die Menschen stehen tatsächlich für eine Vorstellung an, bei der der Filmprojektor nur selten überhaupt angeschaltet wird. Universitätspräsident Prof. Dr. Thomas Nauss und Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies treten auf die Bühne. „Man trägt doch eine eigentümliche Kamera im Kopfe, in die sich manche Bilder so tief und deutlich einätzen, während andere keine Spur zurücklassen“, zitiert letzterer die Schriftstellerin Berta von Suttner. Und auch er vergleicht die Arbeit einer Kamerafrau mit der einer Malerin, die ihr Werk im Atelier versteckt, bis es der Öffentlichkeit präsentiert wird.

Der Marburger Kamerapreis gibt darüber hinaus einen Einblick hinter die Kulissen. Regisseur:innen und Schauspieler:innen stehen im Rampenlicht, Produzent:innen tragen die großen Namen und die Verantwortung. Kameramänner und Kamerafrauen hingegen sind maßgeblich daran beteiligt, die Bildsprache eines Films zu entwickeln, erhalten dafür jedoch viel zu selten die Anerkennung. Denn sie sind es, die Szenenbilder kreieren, welche uns jahrelang im Kopf bleiben, uns schocken, berühren und nachhaltig prägen.

Auftritt Thierry de Peretti. Der Regisseur, dessen Film „Undercover“ (OT:„Enquête sur un scandale d’État”, 2021) zwei Tage zuvor Deutschlandpremiere feierte und damit zum zweiten Mal mit Claire Mathon kooperierte, hält die Laudatio auf Mathon. Er lobt sie dafür, dass sie stets offen für neue Projekte sei, es kümmere sie nicht, wie lange jemand schon im Beruf ist. „Unsere Arbeit“, sagt de Peretti und deutet auf Mathon, „ist eine Studie – eine tiefe Meditation“. In Zeiten, in denen nicht nur eine Schauspielerin auf Mathons Bewegtbildern brenne, sondern die ganze Welt in Flammen stehe, sei sie es, die einen wichtigen, kulturellen Beitrag leiste. „Hier wird die Kamerafrau als Autorin – nicht als Technikerin in den Mittelpunkt gestellt“, meint der Laudator.

Der Höhepunkt, das Ende und der Moment auf den alle gewartet haben, folgt: Claire Mathon geht überwältigt auf die Bühne. Ihr wird ein üppiger Blumenstrauß gereicht, dann der Marburger Kamerapreis: eine große Mappe, die einen Zettel enthält. Ihre Überforderung ist ihr selbst aus der letzten Reihe anzumerken: Das Licht scheint so selten auf sie, die Kameras befinden sich für gewöhnlich in ihrer Hand und in diesem Moment kann sie nicht bestimmen, wie das Bild gezeichnet wird, das alle sehen. Sie ist die Protagonistin dieses Stücks.

Dr. Thomas Nauss, Präsident der Philipps-Universität Marburg (von links), der französische Regisseur Thierry de Peretti, Preisträgerin Claire Mathon und Marburgs Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies
© Georg Kronenberg

Tage später wird sie wieder in ihr Berufsleben zurückkehren. Sie steckt mitten in den Vorbereitungen für den neuen Film des argentinisch-französischen Regisseurs Pablo Agüero und plant Aufnahmen in einem kleinen Flugzeug, verrät sie im Interview. Wieder eine neue Herausforderung. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist sie Künstlerin, Weltenentdeckerin, Konzeptionistin, Lichtgestalterin, Bildkomponistin, Teamplayerin, Vermittlerin und Kreative. Diejenigen, die Claire Mathon nicht noch einmal in Person treffen werden, wissen dennoch, wenn sie ihr wiederbegegnen: „Leute, die mich kennen, die erkennen mich auch im Film wieder – die spüren das.“

Fotos: Benedikt Schniedermeyer
Foto der Preisverleihung: Georg Kronenberg

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