Sneak Review #204: Red Rocket

Sneak Review #204: Red Rocket

Life’s good, vor allem, wenn die Sonne rauskommt, wie neuerdings in Marburg der Fall. Zu diesen Sommer Vibes passt die Sneak am Dienstag, den 12.04.22, gut, denn diese Woche nimmt uns Regisseur Sean Baker mit seinem Film „Red Rocket“ mit in den sonnigen Süden nach Texas. Wird der ehemalige Pornodarsteller Mikey Saber (Simon Rex) mithilfe der 17-jährigen Strawberry (Suzanna Son) den Durchbruch im großen Geschäft mit den kleinen Schmutzfilmchen schaffen?

Take Me Back To The Sweet Sunny South

Der frühere Pornodarsteller Mikey Saber kehrt mangels Geld und Karriereperspektive aus Hollywood zurück in seine kleine texanische Heimatstadt. Bei seinen Bekannten von früher hält sich die Freude jedoch in Grenzen. Seine Versuche, sich bei der Noch-Ehefrau Lexi (Bree Elizabeth Elrod) und deren Mutter Lil (Brenda Deiss) einzunisten, fruchten erst nach hartnäckigen Versuchen, die geprägt sind von einer mitleiderregenden Erzählung über Obdachlose, die ihn ausgeraubt hätten und dem Versprechen, Miete zu zahlen. Um sein Wort zu halten, begibt er sich auf Jobsuche, allerdings erfolglos. Wenn es darum geht, wie der Mittvierziger Mikey sich die letzten 17 Jahre seinen Lebensunterhalt verdient hat, ist spätestens beim Wort „Pornodarsteller“ sein Schicksal besiegelt. Schließlich findet er eine lukrative und zukunftssichere Arbeit bei der Mutter seines ehemaligen Schulkameraden Ernesto (Marlon Lambert), Leondria (Judy Hill). Fortan zählt er sich zur ehrlichen Zunft der Drogendealer.

Nach der ersten Zahlung an seine Vermieterinnen führt er sie ins Donut Hole aus und verliebt sich auf einen Schlag in die minderjährige Kassiererin Strawberry, die eigentlich Raylee heißt. Er kehrt später zum Donut Hole zurück und überzeugt sie davon, sein Gras an die Arbeiter der Ölraffinerie verkaufen zu dürfen, die ihre Mittagspause im Donut Hole verbringen. Es entwickelt sich ein vor allem von Sex geprägtes Verhältnis zwischen den beiden und Mikey verbringt nun fast jede freie Minute mit Strawberry, auch hinter der Theke des Donut Hole, was ihre Chefin Ms. Phan (Shih-Ching Tsou) mit Misstrauen toleriert. Nash (Parker Bigham), Strawberrys Highschool-Freund, hat ebenfalls starkes Interesse an ihr. Mikey macht ihm bei einem Besuch daheim mit einem Verweis auf seine Pornokarriere allerdings klar, mit wem er es zu tun hat und auch Raylee erteilt ihm eine Abfuhr. Das kann Nash so jedoch nicht auf sich sitzen lassen und greift zu seinen schärfsten Waffen. Lexi und Mikey kommen sich wieder näher, aber ebenfalls nur körperlich. Emotional entfremden sie sich sogar noch mehr, falls das überhaupt möglich ist. Ganz im Gegensatz zu Lonnie (Ethan Darbone), Lexis Nachbarn, der sehr beeindruckt ist von Mikeys „Karriere“. Sie beginnen, viel miteinander abzuhängen, zumindest so lange, bis etwas Schreckliches geschieht und sich ihre Wege scheiden…

Behind The Scenes

Red Rocket fügt sich nach The Florida Project, Tangerine L.A. und Starlet als vierten Teil in Bakers lose Filmreihe über Sexarbeiter*innen ein. Alle spielen sie im selben Milieu, am Rande der Gesellschaft, immer nur ein Steinwurf vom Glanz und Glamour der Schönen und Reichen entfernt. Bakers Ziel mit dieser Art Filmen ist es, die Menschen, die am Ende der Nahrungskette der Pornoindustrie stehen, von ihrem Stigma zu befreien. Die Rolle des Mikey Saber, ein Stereotyp in der Welt der Erwachsenenfilme, bildete für die Entstehung von „Red Rocket“ den Ausgangspunkt für die Drehbücher der Autoren Baker und Chris Bergoch. Hätte ich diese Hintergrundinformationen vorher gehabt, hätte ich „Red Rocket“ mit anderen Augen gesehen, mich mehr auf Mikeys Person konzentriert und wie er versucht sich in sein neues soziokulturelles Umfeld integriert.

Überraschend…

…gut geschauspielert. Simon Rex (Gossip am Rande: war mal mit Meghan Markle zusammen), den man, wenn überhaupt, aus Filmen wie Scary Movie 3-5 kennt, wurde mit Nominierungen und Preisen praktisch überhäuft. Was auch daran liegen könnte, dass er nicht nur aus seiner Rolle das Milieu schon mehr oder weniger gut kennt. In den 90ern spielte er zu Karrierebeginn selber dreimal in Pornos mit. Aber ganz besonders fiel mir Suzanna Son ins Auge. Sie erfüllt die Besetzung für die Rolle der Strawberry außerordentlich gut, weil sie innerhalb ihres Schauspiels eine Gratwanderung zwischen Unschuld und Koketterie meistert. Es fällt leicht, Son abzukaufen, wenn sie mit Rex flirtet und sich verführerisch auf die Lippen beißt, um im nächsten Moment unverdorben und zuvorkommend den nächsten Arbeiter zu bedienen. Die Leistung der Schauspieler*innen beeindruckte vor allem, da der Großteil des Casts eigentlich nicht schauspielerisch tätig ist, sondern vom Regisseur Baker praktisch vor Ort „auf der Straße gefunden“ wurde. Beispielsweise war Darbone ein Kellner in einem Restaurant, in dem Baker aß. Dadurch wurde dem ganzen Film eine besondere Authentizität verliehen.

Schöner Gutenachtfilm

Die letzte halbe Stunde fühlte sich wie ein Test an, wer es möglichst lange schafft, die Augen offen zu halten. Ich muss zugeben, dass ich durchgefallen wäre. Der 130 minütige „Red Rocket“ hat sich wie ein 3-Stunden-Epos gezogen. Mikey und Strawberry sind zwar wirklich Zucker zusammen und über das Mutter-Tochter-Gespann Lexi und Lil könnten sich Soziolog*innen die Finger wund schreiben, aber gegen Ende passiert einfach wenig. Sogar der Showdown ist eigentlich mehr ein Showdownchen. Ohne die Hintergrundinfos hätte es der Film auf jeden Fall nicht geschafft, mich so eindrücklich auf die Stigmata von Sexarbeiter*innen aufmerksam zu machen, denn bis auf die erfolglosen Bewerbungsgespräche zu Beginn tritt dieser Aspekt für mich nicht wirklich deutlich zutage. Ich würde den Film entweder zum Einschlafen empfehlen, wenn schon klar ist, dass die Augenlider nicht mehr lange mitmachen, die Ansprüche aber noch nicht auf Bachelor-Niveau gesunken sind oder fürs Film gucken zu zweit. Nicht nur, weil aufgrund der Thematik nun auch der Maßstab ans eigene Date gesetzt sind, sondern auch, weil man zum Finale hin eh nur noch wenig verpasst, wenn das Geschehen im eigenen Bett spannender wird als auf dem Bildschirm. Wer sich aber für die soziokulturellen Aspekte der Pornoindustrie und der vom Rest der Gesellschaft abgehängten Unterschicht interessiert, dem würde ich empfehlen, sich schleunigst nice Plätze zu sichern.

Red Rocket lief am 14. April 2022 in den deutschen Kinos an.

Foto: Sean Baker/FilmNation Entertainment

Stolze Stuttgarterin, 23 Jahre jung, studiert Nah- und Mitteloststudien. Seit März 2022 dabei und bildet seit Januar 2023 mit Leo die Chefredaktion. Mit dem Körper in Marburg, dem Geist in Palästina und dem Herzen in den Alpen.

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