Sneak-Review #236: The Whale

Sneak-Review #236: The Whale

Der Englischprofessor Charlie (Brendan Fraser) führt ein bedauernswertes Leben. Aufgrund seines starken Übergewichts vegetiert er zwischen Sofa und Bett vor sich hin, laufen kann er nur mit Gehhilfe und seine Lehre beschränkt sich auf Online-Schreibkurse. Im Gegensatz zu seinen Schüler:innen macht er in diesen nie von seiner Web-Kamera Gebrauch, die Scham vor seinem Erscheinungsbild ist schlichtweg zu groß. Soziale Kontakte hat Charlie fast keine, ausschließlich seine Freundin und Pflegerin Liz (Hong Chau) schaut regelmäßig vorbei, um ihn zu versorgen. Als dann seine Teenager- Tochter Ellie (Sadie Sink), die er seit Jahren nicht gesehen hat, plötzlich in seiner Wohnung steht, versucht er seine Chance auf Annäherung zu nutzen.

Überzeichnet echt

Wale sind anmutige Wesen. Trotz ihrer Masse steuern die Mehrtonner mit einer unendlichen Leichtigkeit durch die Weltmeere. Wenn der Filmtitel The Whale jedoch als Verweis auf eine Gemeinsamkeit zwischen den Säugern und dem Hauptcharakter von Aronofskys neuestem Film herhalten soll, dann beschränkt sich diese ausschließlich auf die gewaltige Erscheinungsform. Denn Chris’ Bewegungsabläufe wirken weder anmutig noch könnte man ihnen irgendein Attribut zuschreiben, dass einer Form von Leichtigkeit nur nahekommt. Seine Adipositas zwingt ihn, die meiste Zeit im Sitzen oder Liegen zu verbringen, Laufen ist ihm nur möglich, wenn seine Gehhilfe für ihn einen Teil seines Bauches trägt. Aronofsky zeigt die Lebensrealität des Schwerkranken hart und unverblümt, manche würden sogar meinen überzeichnet.

In der Nachbesprechung seines Films sah sich Aronofsky deswegen schwerer Kritik ausgesetzt, Fat-Shaming und eine falsche Darstellung von Adipositas im Alltag lautete die Anklage. Diese kritischen Stimmen kommen nicht von ungefähr, denn es entsteht durchaus der Eindruck, dass der Film darauf abzielt, die Zuschauerschaft anzuwidern, sie mit einer entmenschlichten Darstellung eines Kranken zu einem Gefühl des Abgestoßen-Seins provoziert. Zugutehalten muss man Aronofsky jedoch – und hierbei handelt es sich um ein entlastendes Argument –, dass er es nicht bei einer solchen Darstellung belassen hat, sondern das Übergewicht als Symptom einer Depression erklärt, wodurch es zu einer beliebigen physischen Ausprägung einer depressiven Erkrankung verkommt. Freilich reizt Aronofsky die Grenzen der Kunst aufs Äußerste aus. Da er seinen Hauptcharakter jedoch nicht auf seine Fettleibigkeit reduziert, sondern viel mehr bei der Zuschauerschaft im Verlauf des Films um Verständnis für die bemitleidenswerte Situation wirbt, sind die gegen ihn erhobenen Vorwürfe haltlos. Hinzu kommt noch, dass Brendan Fraser durch großartiges und bewegendes Spiel seinen Hauptcharakter nie würdelos erscheinen lässt. Ganz im Gegenteil: Tatsächlich ist Chris die einzige Figur, die Tugenden wie Anstand und Würde in sich vereint. Während alle anderen ihn nämlich schon längst aufgegeben haben, denkt Chris überhaupt nicht daran, den Glauben in seine Mitmenschen zu verlieren. Körperlich gebrochen und von der Gesellschaft gepeinigt, bleibt er standhaft im Geiste.

Aronofskys Gretchenfrage

The Whale reiht sich nahtlos in Aronofskys vorherige Filmthemen ein, die ebenso sowohl das Verhältnis zwischen Mensch und Gott (Mother!) als auch die psychische Belastbarkeit des Menschen (Black Swan, Requiem for a Dream) zum Gegenstand haben. Die genannten Filme verbindet darüber hinaus, dass ihre Hauptfiguren auf eine Suche nach Erlösung geschickt werden. Auch Chris sehnt sich nach Erlösung und wird auf seinem Weg mit seinen Fehlern und angeblichen Sünden aus der Vergangenheit konfrontiert. Auf seinem letzten Weg verantwortet er sich für seine Taten und merzt alte Fehler aus, er stellt sich den kirchlichen Erwartungen und findet dabei zu seinem ganz eigenen Glauben zurück.

Das Finale des Films wirkt auf den ersten Blick kitschig – pathetisch, Aronofsky fährt nämlich die ganz großen Geschütze auf. Auf den zweiten Blick jedoch erkennt man wie passend es doch ist, wie nah dran an den Sehnsüchten des echten Lebens, wenn Chris ein kurzes, unscheinbares Essay zu seinem letzten Daseinszweck macht und die erste, vorschnelle Auslegung des Filmtitels durch dieses ad absurdum geführt wird.

The Whale wurde zu 92% positiv und zu 8% negativ bewertet.

(Lektoriert von jok und hab.)

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