Die Guten: „Alles ist beschissen wie immer!“
Foto: Jan Bosch; Collage: Laura Schiler
Am 10. Februar 2024 feierte Rebekka Kricheldorfs satirisches Gesellschaftsdrama Die Guten in der Inszenierung von Angelika Zacek Premiere am Hessischen Landestheater Marburg (HLTM). Als Versuch mit sämtlichen Problemen der Gegenwart abzurechnen, allen voran dem Gut-Sein-Wollen, aber nicht wirklich Gutes-Tun des modernen Menschen, ist Die Guten stets bemüht, dem Publikum den symbolischen Spiegel vorzuhalten. Doch wer eine spannende Geschichte mit prägnantem Humor und subtiler Gesellschaftskritik erwartet, könnte enttäuscht werden. Das Einzige, was am Ende außer Zweifel steht: „Alles ist beschissen wie immer.“ Na, danke auch.
Eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft
Seit der Antike treffen sich die vier Kardinaltugenden Fortitudo (Tapferkeit), Justitia (Gerechtigkeit), Temperantia (Mäßigung) und Prudentia (Klugheit), gespielt von Fanny Holzer, Charlotte Ronas, Sven Brormann und Ulrike Walther, alle zehn Jahre für ein Statusupdate zum aktuellen gesellschaftspolitischen Geschehen. Zunächst scheint es, als sei die Menschheit auf dem besten Weg. Die Bestandsaufnahme zeigt: Nachhaltigkeit, Toleranz und Solidarität sind hoch im Kurs. „Hurra!“ und „Praise!“ Doch schnell wird klar, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Zwar essen die Menschen weniger Fleisch, posten schwarze Quadrate gegen den Rassismus auf Instagram und kaufen Bioprodukte, doch die tiefgreifenden Ungerechtigkeiten, die die Welt durchziehen, bleiben.
Angereist sind die vier auf Löwen oder Kamel, beladen mit Symbolen, wie Schlange, Waage, Fackel und Schwert, und sie wollen auf gar keinen Fall mit den Menschen auf einer Stufe stehen. Die Tugenden scheinen in ihrer überspitzten Darstellung Karikaturen ihrer selbst zu sein. Sie repräsentieren das, was sie eigentlich kritisieren: Tapferkeit scheint ihren Mut meistens nur vorzuspielen, Gerechtigkeit kämpft angesichts ewiger Ungerechtigkeiten mit Depressionen, Klugheit gerät regelmäßig in Erklärungsnot und Mäßigung verliert zunehmend die Beherrschung. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf: Wie sehr passen die vier noch in unsere Welt?
„Die Welt ist voll von Ungerechtigkeit!“
Die Prämisse scheint vielversprechend. Seit mehreren tausend Jahren überlegen Philosoph*innen, an welchen Maßstäben wir unser Handeln messen können. Doch welche Rolle spielen diese Philosophien, wenn wir durch unseren Alltag gehen? Die Idee, die Tugenden selbst dafür zum Leben zu erwecken, um das zu beantworten, klingt zunächst spannend.
Was dem Stück jedoch fehlt ist Spannung – jegliche Steigerung oder Entwicklung bleibt aus. Die Tugenden unterhalten sich über dies und jenes, sie tratschen, zanken, diskutieren und führen ausgiebige Monologe. Doch gibt es keinen Handlungsstrang, der alles zusammenhält Emotionen kommen und gehen, aber sie führen zu nichts und sie verändern nichts. Wie die Erzählung selbst wirken die Figuren flach und plakativ. Sie entwickeln sich kaum weiter. So wie sie sind, sind sie eben schon seit mehr als zweitausend Jahren. Schließlich sind sie Allegorien, nicht mehr und nicht weniger.
So fällt es als Zuschauer*in schwer, sich auf das Gesagte tatsächlich einzulassen, mitzudenken, mitzufühlen. Zeitweise scheint das Stück mehr Vortrag als Schauspiel zu sein – ein Abriss sämtlicher Probleme, die es auf der Welt gerade so gibt. Alles wird einmal klein gehackt und in einen großen Topf geschmissen: Von toxischer Männlichkeit über Eurozentrismus bis hin zu Kriegsverbrechen. Das, was das Stück dem Publikum sagen möchte, wird nicht anhand einer Geschichte erzählt, es wird von den Figuren aufgesagt und ausdiskutiert. Das wird besonders deutlich, wenn Prudentia zum Schluss selbst nach einer Bilanz des Treffens fragt, die von den anderen Figuren ohne Weiteres ausbuchstabiert wird: Menschen waren immer schon scheiße und an irgendwelche philosophischen Tugenden hält sich sowieso keiner.
Und auch warum dann gerade die Idee des ‚Gutmenschentums‘, ein Kampfbegriff rechter politischer Rhetorik, der zudem bereits 2015 zum Unwort des Jahres gewählt wurde, in einem 2022 uraufgeführten Stück als Kern der Gesellschaftskritik gewählt wurde, erschließt sich nicht. Wenn die Tugenden die Bühne verlassen und in den Saal treten, wird der Versuch dem Publikum den Spiegel vorzuhalten allzu deutlich. Doch die Vorwürfe wirken abgedroschen und entziehen sich jeglicher Komplexität: Klar, sich vegetarisch zu ernähren, auf Flugreisen zu verzichten und ab und zu einen kritischen Post zu teilen reicht nicht aus, um ein guter Mensch zu sein. Aber sind das tatsächlich noch Maßstäbe, nach denen wir uns richten?
“I’m a creep. I’m a weirdo.”
Aufgebrochen werden die ewigen Monologe und Diskussionen zwischen den Tugenden immer wieder von scheinbar sinnlosen Karaokeeinlagen. Wenn die Themen zu emotional, zu kontrovers oder zu politisch werden, wird erstmal ein Popsong angestimmt – von Radiohead über Rosenstolz zu Queen. Der Wechsel zwischen Gesellschaftskritik und ausgelassenen Gesangseinlagen ist absurd und irritiert, doch er wirkt. Wie beim Scrollen durch den eigenen Instagram-Feed, in dem sich scheinbar endlose Schreckensnachrichten mit stumpfer Unterhaltung abwechseln, entsteht ein unbestimmbares Gefühl der Entfremdung.
Gerade in diesen Momenten der Irritation stechen die Kostüme heraus. Bunt und schimmernd heben sich die Figuren von ihrem weißen Hintergrund ab. Der Kostümbildnerin Julia Klug gelingt es, die antiken Tugenden in die Gegenwart zu holen, ohne ihre symbolische Kraft einzugrenzen. Die ausgefallenen Kleider schaffen den Spagat zwischen Antike und Gegenwart; zwischen philosophischer Tradition und Alltag. Die Tugenden sind nicht von dieser Welt – und doch immer im Dialog mit dem, was gerade aktuell passiert.
„Reicht dir das? Reicht dir das als Conclusio?“
Das Stück ist ein Plädoyer für das Aushandeln gemeinsamer Wertorientierungen und aktueller ethischer Prinzipien. Darin bietet es die Möglichkeit, das eigene Handeln und die eigenen Vorstellungen davon, was ein „guter Mensch“ ist, zu hinterfragen. Fragt man Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit und Mäßigung ist „alles beschissen wie immer“, aber sind das denn überhaupt noch die Maßstäbe, an denen wir gutes Handeln messen wollen?
Zwar habe ich bereits durchaus unterhaltsamere, kurzweiligere Abende im Theater verbracht, die dadurch nicht weniger anregend waren, aber wer gerne auch mal mitdenkt, sich über das Gesagte auch mal ärgern kann und lacht, wenn die da vorne „Penis“ gesagt haben, der wird dem Stück Die Guten sicher etwas abgewinnen können.
(Lektoriert von lurs und hab.)
studiert Soziologie im Master, wenn sie nicht gerade in Marburgs Cafes Kaffee trinkt oder irgendwo auf Reisen ist.