Eine Geschichte mit Franz Kafka: Michael Kumpfmüller liest aus „Die Herrlichkeit des Lebens“
Bild: Laura Schiller
Der Hype um den Schriftsteller Franz Kafka ist eine ewige Konstante des deutschen Literaturdiskurses, aber erreichte zu seinem 100. Todestag am 3. Juni einen erneuten Höhepunkt. Zu diesem Anlass veranstaltete das Marburger Literaturforum eine Lesung mit Michael Kumpfmüller, dessen Kafka-Roman Die Herrlichkeit des Lebens bereits 2011 erschien, dieses Jahr aber verfilmt wurde.
Seine Lesung beginnt Kumpfmüller mit dem vorletzten Kapitel. Das dürfe er, denn das Publikum wisse ja, dass Kafka gestorben ist. Die Herrlichkeit des Lebens behandelt das letzte Jahr in Kafkas Leben und vielmehr seine Liebesgeschichte zu Dora Diamant. Der Roman, mit abwechselnden Sichtweisen von Dora und Franz, erzählt von ihrem Kennenlernen an der Ostsee, ihrem Umzug nach Berlin, Kafkas Krankheit und schließlich seine letzten Tage in einem Sanatorium in Österreich.
Der Tragödie letzter Teil
In diesen letzten Tagen, liest Kumpfmüller, werde Kafkas Durst immer schlimmer und schlimmer. Er habe nichts zu tun und verbringe lange Tage mit Dora und seinem engen Freund Robert Klopstock, die sich fürsorglich um ihn kümmern, aber er könne nichts essen, nicht sprechen. Er denke oft an den Vater, wie zufrieden er sicher sei mit seinem Sterben sein, aber ihn bestimmt auch dafür kritisieren würde, wie viel Zeit er sich damit lasse. Er denke an Dora, vermisse ihren Körper, „es rührt ihn fast zu Tränen, wie zart und jung sie ist“. Kumpfmüllers Schreibstil ist dabei erstaunlich distanziert. Kafka schaut wie ein Außenstehender auf sein Leben, rattert seine Befindlichkeiten wie einstudiert herunter. Seine Angst vor dem Ersticken wird so sachlich benannt – die Illusion kommt nicht auf, dass dort tatsächlich Kafka denkt und fühlt. Die Worte, die er nicht sprechen kann, werden ihm zu sehr in den Mund gelegt.
Aber einen besonderen Anspruch auf Richtigkeit habe Kumpfmüller sowieso nicht. Die Briefe, Texte und Tagebücher, deren Korrektheit er nicht überprüfen kann, seien seine Vorlage. Seine Aufgabe beim Schreiben war es, den Lückentext auszufüllen. Und Lücken wird es immer geben, egal wie gut die Dokumentation ausfällt. Selbst wenn einem die eigenen Freunden viel erzählen würden, erklärte Kumpfmüller, so kenne man doch nur Bruchstücke ihres Lebens und nie die ganze Wahrheit.
Und Kumpfmüllers „Freund“ ist Kafka, klingt es den ganzen Abend über hinweg an. „Viele Autoren haben eine Geschichte mit Franz Kafka“, so wie er auch, sagt er. Sein Deutschlehrer – ein Herr Grimm – habe aus Frustration zu seiner Klasse gemeint: „Mit euch rede ich erst wieder, wenn ihr Kafka gelesen habt“. Damals war Kumpfmüller wie alle Jugendlichen „unverständlich und empfänglich“ und gerade von seiner ersten Freundin verlassen worden. Also begann er Kafka zu lesen und kurze Zeit später auch zu schreiben „wie Kafka“. Sein erstes Manuskript wurde vom Verlag abgelehnt, es sei „völlig epigonal“. Erst 15 Jahre später begann er erneut zu schreiben, da ihm ein Foto von Dora Diamant einfiel, dass ihn inspirierte, „und seitdem sind wir wieder Freunde“.
Wer hat Angst vor leisen Liebesfilmen?
Die anderen beiden Kapitel, aus denen Kumpfmüller vorliest, sind aus Doras Perspektive geschrieben. Die Distanziertheit im Schreibstil schlägt in Nahbarkeit um, obwohl weiterhin ein ästhetischer Fokus auf ihre Jugend und ihre Sinnlichkeit gelegt wird. Es geht viel um ihre Träumereien, um Wünsche für ihre Zukunft mit Franz. Auch wird die Geschichte erzählt, wie Kafka einem jungen Mädchen über den Verlust ihrer Puppe hinweghilft. Diesen Abschnitt nutzt Kumpfmüller als Überleitung, um von der Verfilmung seines Romans zu erzählen, da diese Szene auch im Film vorkommt aber etwas anders umgesetzt wurde.
Schon in der frühen Vorproduktion sei man auf das „Problem“ gestoßen, dass das Buch zu undramatisch, zu still und leise und zu konfliktarm sei. Es wurden hanebüchene Ideen vorgeschlagen, um den Film spannender zu machen – ein Pogrom in Berlin, zum Beispiel, obwohl dieses komplett historisch inakkurat gewesen wäre. Auch wurde Dora oft zu einer „kleinen, bürgerlichen Tussi“ reduziert, dabei sei sie, laut Kumpfmüllers eigener eigentümlicher Aussage, „eine Traumfrau, nach heutigen Maßstäben“: ein Freigeist, gebildet und hatte einen eigenen Willen. Mit dem Endprodukt des Films sei Kumpfmüller jedoch zufrieden. Dass einige historische Ungereimtheiten oder Diskrepanzen zu seinem Buch darin vorkämen, störe ihn nicht besonders.
Außerdem teilte er Erfahrungen von den Dreharbeiten: der Hauptdarsteller Sabin Tambrea habe ihm sofort von seinem eigenen Buch erzählt und durchweg Fotos geschossen, während die Dora-Darstellerin Henriette Confurius die ganze Zeit in ihrer Rolle geblieben und deswegen etwas unfreundlich und distanziert wirkte. Bei der Premiere hätte sie ihm jedoch ihre offene und zuvorkommende Art gezeigt, unter anderem indem sie ihm ihren Helikopter für seine Weiterreise auslieh – wobei nicht ganz klar wurde, ob er diese Anekdote ernst meinte oder nicht.
Fast schon zu kitschig, um wahr zu sein
Das letzte Kapitel, das Kumpfmüller vorliest, ist zugleich das erste aus Doras Perspektive. Sie geht ihrer Arbeit in einer jüdisch-sozialistischen Selbsthilfeorganisation am Meer nach, in der Kinder ihren Sommer verbringen können, doch hat nur Augen für den charmanten „Doktor“, der vor Kurzem angereist ist. Sie bringt in Erfahrung, ob er nicht verheiratet ist, verabredet sich mit ihm zum Spazieren gehen, sehnt sich ununterbrochen nach ihm und erschrickt bei jeder kleinsten Bewegung. Kurz: Sie verliebt sich in ihn.
Es wird schnell klar, warum Kumpfmüller den Anfang seines Romans ans Ende des Abends schob: Obwohl dem Buchende durchaus Distanziertheit und sogar ein gewisser Voyeurismus vorzuwerfen ist, verliert es sich doch nicht so sehr im Kitsch wie der Beginn seiner Erzählung. Tatsächlich wirken die beiden Ausschnitte nicht wie dasselbe Buch. Ob das nun eigentlich von Vorteil ist und eine schlau gelöste Charakterentwicklung im Verlaufe des Romans nachzeichnet, kann ohne die Lektüre des gesamten Werkes nicht nachvollzogen werden. In der Kürze des Abends stellte es jedenfalls einen gar seltsamen Bruch dar.
Fiktionalisierte Erzählungen über echte Menschen zu schreiben ist eine Praxis so alt wie die Literatur selbst und es ist Geschmackssache, ob man Vergnügen an solchen Romanen findet oder nicht. Michael Kumpfmüller ist natürlich weder Plutarch noch Tolstoi, aber seine Faszination mit Kafka war am Abend der Lesung deutlich zu spüren. Diese Liebe wird auch in den vorgelesenen Passagen klar, die Verzweiflung diesen Freund greifbar zu machen und ihm erneut Leben einzuhauchen. Das Ergebnis ist anfänglich eine süße Liebeserzählung, die im Sprachstil versucht, dem Duktus des frühen 20. Jahrhunderts nachzukommen, was stellenweise vielleicht etwas antiquiert aber doch zumindest semi-authentisch wirkt.
Gegen Ende wandelt sich „Kafka“ in eine Romanfigur, die, mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, mit größeren Themen umgehen muss als der nächste Spaziergang am Strand, doch dessen Gedanken trotzdem um die Jugendlichkeit seiner Geliebten kreisen. Zumindest verliert Kumpfmüller so den Fokus, die zarte, tragische Liebesgeschichte, ob sie nun so historisch akkurat ist oder nicht, dabei nicht aus den Augen. Kafka als Person greifbarer zu machen, mag dabei eine Aufgabe gewesen sein, die vielleicht zu persönlich, zu privat war, um ihr in den Seiten des Romans oder in den kurzen zwei Stunden der Lesung gerecht zu werden.
Noch nicht genug von Kafka? Unser Redakteur Joannis hat die Filmadaption zu Die Herrlichkeit des Lebens und die von der ARD ko-produzierte Mini-Serie Kafka rezensiert. Seine Besprechung könnt ihr hier lesen.
ist 23 Jahre alt und studiert Literaturvermittlung in den Medien, sieht sich selbst aber immernoch als Anglistin. Sie weiß nichts über vieles, aber alles über Jane Austen.