„Ich grüße alle, die ich erkenne!“

„Ich grüße alle, die ich erkenne!“

Seit dem 1. Dezember 2015 ist Dr. Thomas Spies nun im Amt. Mit einer durchaus ansehnlichen Mehrheit von 42,8 % im ersten und 60 % im zweiten Wahlgang wählten die Marburger:innen den SPD-Politiker zu ihrem neuen Oberbürgermeister. Zeit, dass auch wir uns einmal mit ihm unterhalten: Ein Gespräch über bezahlbaren Wohnraum, das Marburger Nachtleben und das Gefühl, dass Studieren früher einen anderen Wert hatte.

PHILIPP: Herr Dr. Spies, grüßen Sie eigentlich alle Marburger:innen, die sie auf der Straße treffen?

Dr. Thomas Spies: (lacht) Nein, nur alle, die ich erkenne oder bei denen ich das Gefühl habe, dass sie mich erkennen.

Ok. Wie waren denn ihre ersten Monate im Amt?

Cool, es war besser als ich gedacht habe.

Aha, inwiefern?

Ich habe ja 16 Jahre Opposition gemacht und meine neue Rolle geht doch mit erheblichen Gestaltungsoptionen einher: Es passiert tatsächlich, was man sich vorstellt. Hinzu kommt, dass die Leute total nett sind – ich habe noch nie in so kurzer Zeit so viel positives Feedback bekommen.

Von Kolleg:innen oder von Bürger:innen?

Beides. Aus der Verwaltung kamen angenehme Rückmeldungen, aber auch von den Bürger:innen. Es gibt immer noch Leute, die mir gratulieren und mir sagen, dass sie sich freuen, dass ich gewählt worden bin. Das ist mir als Abgeordneter ganz selten passiert.

Es ist also für Sie kein Rückschritt gewesen, vom Landtagsabgeordneten zum Oberbürgermeister?

Nein, es ist anders. Es ist schon so, dass alltägliche Dinge viel Zeit fressen. Als Oberbürgermeister muss ich viel anschauen, entscheiden und den Überblick behalten. Außerdem muss ich an vielen Stellen noch nachfragen, weil die Verwaltungsabläufe noch neu für mich sind. Das ist total spannend, aber es frisst eben auch unheimlich viel Zeit. Als Abgeordneter habe ich mich eher grundsätzlichen Fragestellungen gewidmet: Wie konkretisiere ich eine politische Idee?

Kein Wunder, dass Ihnen immer noch gratuliert wird: Von Ihrem Wahlergebnis können andere SPD-Politiker:innen nur träumen. Haben Sie einen Tipp für Ihre Kolleg:innen auf Bundesebene?

Wenn man nur zu zweit ist, sind 60 % natürlich leichter zu erreichen. (lacht) Ich habe als Abgeordneter – und das mache ich auch jetzt noch – immer gerne deutliche Worte gesprochen. Ich war ja vorher Arzt, und als Arzt verspricht man möglichst wenig, weil man viele Dinge nicht versprechen kann, sondern nur, dass man sich darum bemüht. Auf diese Unterscheidung habe ich schon immer sehr geachtet. Außerdem finde ich für die Position, für die ich stehe, immer sehr deutliche Worte. Dazu kommt – das kann man aber auf der überregionalen Ebene nicht leisten: Ich war im Oberbürgermeisterwahlkampf an etwa 15.000 Türen und hab persönlich vor den Leuten gestanden. Ich finde, wenn man gewählt werden will, kann man mal hingehen und sein Gesicht zeigen.

Ihr Konzept finde ich recht umfangreich – ich habe allein unter der Kategorie „Was zu tun ist“ etwa 160 Punkte gezählt. Wie schaffen Sie es, den Überblick zu behalten?

Naja, die Punkte haben natürlich einen unterschiedlichen Umfang. Und sechs Jahre sind ja auch eine Menge Zeit. Nicht alles kann man gleich machen, sich aber eine Richtung vornehmen, manche Dinge muss man ohnehin nur anstoßen. Ich finde, das ist jetzt nicht so viel für eine ganze Stadt.

Ein Problem für viele Studierende – aber auch für andere Bevölkerungsgruppen – in Marburg ist ja die Suche nach bezahlbarem Wohnraum. Welche Lösungsansätze der Stadt gibt es denn dafür?

Letztes Jahr haben wir fast 140 neue preiswerte Wohnungen bekommen. Dieses Jahr werden es 260 sein, und wir machen damit weiter.

Mit „Wohnungen“ meinen Sie sozialen Wohnungsbau?

Nein, preiswerte Wohnungen überhaupt. Man muss sozialen Wohnungsbau und preiswerte Wohnungen, die nicht so teuer, aber nicht an den Wohnberechtigungsschein gekoppelt sind, unterscheiden. Natürlich gilt auch: Wenn man für die Mittelschicht keine Wohnungen hat, gibt es Konkurrenz um die vorhandenen Wohnungen. Es entlastet den Gesamtwohnungsmarkt, wenn es auch bessere und teurere Wohnungen gibt für Leute, die sich das leisten können. Aber Sie haben natürlich völlig Recht: Der Wohnungsbau in Marburg hat die Steigerung der Studierendenzahl um 6.000 Studierende in den letzten Jahren nicht so vorhergesehen.

Warum ist das denn nicht geschehen?

Wir hatten vorher 18.000 Studierende, jetzt sind es 25.000. Seit 2002 wurden 2000 neue Wohneinheiten errichtet, aber das reicht eben noch nicht. Dem müssen wir durch weiteren Wohnungsbau begegnen, was in einer kleinen, engen Stadt, wo rechts und links Berge sind, natürliche Grenzen hat. Am Ende muss man auch mehr Wohnungsbau in den Außenstadtteilen erlauben, damit Leute sich da ein Häuschen bauen und aus der Innenstadt wegziehen können, wenn sie das wollen.

Ah, in diesem Zusammenhang: Der Anrufsammeltaxi-Betrieb in Marburg soll reformiert werden. Werden damit Flexibilitätsverluste einhergehen?

Das Anrufsammeltaxi war mal gedacht für einen Bedarf von ein oder zwei Fahrten am Abend, weil nur wenige Leute es nutzen wollten. Heute wird es so viel genutzt, dass es wie ein Linienbetrieb funktioniert, aber mit doppelten Anschaffungskosten. Es ist nicht barrierefrei und manchmal können nicht alle mit, weil die Autos zu voll sind. Dann kann man auch gleich einen regulär fahrenden Bus einsetzen. Die Flexibilität nimmt nicht ab, weil das Anrufsammeltaxi auch nicht irgendwann gefahren ist, sondern zu bestimmten Zeiten, zu denen man sich anmelden konnte. Jetzt wird es so sein, dass zu dieser Zeit ein Bus fährt, der behindertengerecht ist, man also auch mit Rollstuhl oder Kinderwagen reinkommt, und der genug Platz hat, sodass niemand mehr draußen stehen bleiben muss. Es ist eindeutig eine Qualitätsverbesserung in der Versorgung, weil man ein besseres Fahrzeug zu einer vorhersehbaren Zeit bekommt.

Muss der Bus dann mehr Dörfer anfahren als ein Anrufsammeltaxi?

Nein, davon gehen wir nicht aus. Der Nahverkehrsplan ist aber auch noch nicht fertig. Jede:r kann ihn sich anschauen und E-Mails an die Stadtwerke schreiben, wenn er oder sie etwas anders haben will. Solange der Plan nicht beschlossen worden ist, ist da noch Spielraum.

Thomas Spies

THOMAS SPIES (SPD) ist seit dem 1. Dezember 2015 Marburgs Oberbürgermeister. Zuvor vertrat er die Marburger:innen  von 1999 bis 2015 als direkt gewählter Abgeordneter im Hessischen Landtag. Er wurde in Marburg geboren, ist in der Oberstadt aufgewachsen ist, hat hier Medizin studiert und im Universitätsklinikum gearbeitet. Er meint: „Marburg ist ein guter Ort zum Leben.“

Aus Sicht vieler Studierender besteht auch noch Nachholbedarf bezüglich des Nachtlebens. Etwa das Fehlen von Diskotheken und Veranstaltungsräumen für die kreative Szene oder die Sperrstunden werden kritisiert.

Es ist so: Es gibt zu Recht Begrenzungen für Lärm auf der Straße, also wie lange Straßenkneipen offen sein können. In der Oberstadt haben wir eine ganz dichte Besiedlung: 1990 haben hier 1.200 Menschen gewohnt, jetzt sind es 3.800. Natürlich wird es dadurch lauter. Wenn jeder einmal nachts laut ist, ist es für den Einzelnen kein Problem. Für die Anwohner:innen heißt das aber: Zehn Mal in der Nacht ist Krach. Deswegen gibt es Beschränkungen. Diskos gab es hier immer wieder, aber die haben sich nicht gehalten.

Sie sprechen jetzt von dem ehemaligen Funpark in Wehrda?

Ja, genau. Früher gab es auch mal das PAF in Cölbe und das Till Dawn war auch eine Disko.

Das gibt’s ja noch.

Ja, aber inzwischen gibt es da nur noch geplante Veranstaltungen. Wir reden ja darüber, dass jemand eine Disko kommerziell betreibt. Wenn sich jemand findet, der das macht, ist das gut. Man muss zwar schauen, dass es in das Umfeld hineinpasst, aber das ist überhaupt nicht das Problem. Offenkundig rechnen sie sich aber nicht. Veranstaltungsräume gibt es aber enorm viele in Marburg, das muss man wirklich sagen: KFZ, Waggonhalle, die Trauma-Räume und den Theaterraum, demnächst ein neues, größeres KFZ mit zwei Räumen in der Stadthalle, eine Vielzahl von universitären Räumen, den Lomonossow-Keller, eine ganze Reihe von privaten Räumen und die Alte Mensa. Also, ich sage es mal so: Wenn sich herausstellen würde, dass Leute ernsthaft ein Problem haben, Räume für’s Feiern zu finden, dann müssten wir darüber reden. Aber ich glaube, dass die Aufgabe eher ist, eine Liste aller Möglichkeiten zusammenzustellen.

Ein bekanntes Phänomen in Marburg ist, dass viele Studierende direkt nach dem Studium wieder verschwinden und Marburg nur als Passagenstadt wahrgenommen wird.

Wir würden natürlich gern einen Teil halten. Es ist aber eine Qualität der kleinen Universitätsstädte, dass sie so von der Universität dominiert und so lebendig sind. Das bedeutet aber natürlich auch, dass wir nicht jedes Jahr für 4.000 Absolvent:innen Arbeitsplätze haben. Ich finde es ja schön, wenn Leute sich hier niederlassen und eine Existenz gründen, irgendeine schlaue Idee haben und hier ihren Laden aufmachen. Aber das ist natürlich nur in einem gewissen Umfang möglich. Ich glaube auch, dass sich das Verhältnis der Studierenden zur Stadt an dieser Stelle verändert hat. Ich habe oft das Gefühl, dass viele Studierende das Studium als etwas wahrnehmen, das man hinter sich bringen muss, bevor das eigentliche Leben anfängt.

Haben Sie eigentlich auch in Marburg studiert?

Ja, habe ich. Und damals war es eher so, dass das Studium einen Wert an sich darstellte. Ich finde es wichtig, zu überlegen, warum die Studierenden heutzutage das Studieren und damit auch den Ort des Studiums nur als Zwischenschritt und nicht als eine Phase mit einem originären inneren Wert begreifen. Dann wäre, glaube ich, auch das Verhältnis zu Marburg anders. Aber es ist nun mal so: Eine kleine Universitätsstadt ist ein Ort, an dem nur wenige ihr ganzes Leben verbringen.

Als Sie in Marburg Medizin studiert haben, war das Universitätsklinikum ja noch nicht privatisiert. Wie stehen Sie denn dazu? Gehen damit auch Nachteile für die Lehre einher?

Klar, ich glaube, ich gehöre zu den entschiedensten Gegner:innen der Privatisierung. Ich glaube, dass ein Krankenhaus grundsätzlich in öffentliches Eigentum gehört, weil man die Haltung, die man braucht, um eine soziale Einrichtung primär als soziale Einrichtung und nicht als Ertragsobjekt zu führen, nicht kaufen kann. Ich halte diese Privatisierung von Anfang an und auch heute für groben Unfug. Das hilft mir als Oberbürgermeister aber nicht weiter, weil ich mich mit der Realität des privatisierten Krankenhauses arrangieren muss. Natürlich hat die Privatisierung aber Auswirkungen auf die Lehre. Die erste Frage ist, ob die Lehrverpflichtung erfüllt wird – das müsste man eigentlich mal auszählen. Das Land bezahlt nämlich dafür. Und in der Approbationsordnung steht drin, wie viel Lehre stattfinden muss.

Mit Lehrverpflichtung meinen Sie die Anzahl der Veranstaltungen?

Ja, wie viele Kurse und wie viele Studierende pro Kurs – das ist nämlich auch vorgeschrieben. Das zweite Problem ist: In der Medizin muss der Patient vor allen ökonomischen Erwägungen kommen – und wenn man das an einem Krankenhaus lernt, an dem die ökonomischen Erwägungen eine stärkere Rolle spielen müssen, prägt es das Denken der Medizinstudent:innen in eine falsche Richtung.

Lassen Sie uns noch über das Cappeler Camp für Geflüchtete sprechen. Haben Sie das Gefühl, die Stadt hat die Situation im Griff?

Also, das Cappeler Camp ist nicht unseres, sondern liegt in der alleinigen Zuständigkeit des Regierungspräsidenten. In der Chaossituation letztes Jahr – als plötzlich so viele kamen und als vieles an vielen Stellen angefangen werden musste – haben wir viel Engagement reingesteckt, damit es funktioniert. Wir tun das auch weiter. Wir müssen aber sehen, wie wir mit dem Regierungspräsidenten und dem privaten Betreiber kooperieren. Wir arbeiten dran, dass wir unseren Einfluss an dieser Stelle stärken, um die Unterstützung, die es in Marburg gibt, tatsächlich bei den Flüchtlingen ankommen zu lassen. Darüber hinaus haben wir ja bedeutend mehr Flüchtlinge, die die Stadt Marburg bereits dauerhaft aufgenommen hat. Auch für sie werden wir viel Engagement und Mühe brauchen, um das Eingewöhnen in die Stadt möglichst leicht und schnell zu machen.

Wie sieht denn diese Zusammenarbeit aus?

Naja, man muss sich miteinander verständigen: Wer tut was? Wer hat welches Konzept dabei? Und man muss aufpassen: Ehrenamtliches Engagement ist ein sensibles Gut, mit dem man vorsichtig umgehen muss. Wenn die Leute das Gefühl haben, dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird oder sie ehrenamtliche Arbeit in ein Projekt investieren, mit dem jemand anderes Geld verdient – das ist ein ganz schwieriges Feld. Das müssen wir genau miteinander besprechen und abgrenzen, um dieses Engagement nicht kaputt zu machen. Denn darauf sind wir dringend angewiesen.

Zum Schluss noch eine Leser:innenfrage: Warum ist ihr Name auf der Kandidat:innenliste für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung zu finden?

Oberbürgermeister ist man immer für alle, aber natürlich bin ich auch Sozialdemokrat. Ich kandidiere auf dieser Liste, weil ich damit dazu beitragen möchte, dass es eine starke Sozialdemokratie im Stadtparlament gibt. Wenn Leute mir ihre Stimme geben, dann unterstützen sie meine Politik dadurch, dass sie die SPD-Liste insgesamt stärker machen, auch wenn ich selbst später gar nicht im Stadtparlament bin. Aber ich stehe auf der SPD-Liste, weil – auch wenn ich Oberbürgermeister für alle bin – mein persönliches Wertkostüm das gleiche bleibt. Die Arbeit nach der Wahl ist umso leichter je mehr Leute im Stadtparlament das gleiche Wertkostüm haben wie ich.

Vielen Dank für das Gespräch!

FOTO: Onlinezeitung marburgnews / Promo

Stellvertretende Chefredakteurin und Ressortleiterin Politik. Hat seit neustem ein abgeschlossenes Hochschulstudium - yeah! - und ist ein Fan von Katzen, dem Internet und Katzen im Internet.

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