Theater Review #9: Brief an den Vater

Theater Review #9: Brief an den Vater

Eine Theater-Performance  der Wilden Schwäne von und mit: Jonas Schneider, Oda Zuschneid, Twyla Zuschneid.

Am frühen Abend des 26. März  betrete ich das Foyer des Theaters und spüre sofort eine allgemein aufgeregte Stimmung. Meine Begleitung und ich werden gleich von der Anspannung im Raum mit gepackt, wir sind sehr gespannt. Sie ist 41 Jahre älter und hat eine ganz andere Erziehung erlebt als ich. Wir sprechen schon vor dem Stück über unsere Väter, erinnern uns an schöne Situationen, aber auch an schlimme. Aber das ist wohl auch was der Titel des Stücks, was Kafka mit seinem Brief an den Vater ganz automatisch auslöst: Man denkt an seinen Vater.

Still, grau und grell

Die anderen Menschen reden ebenfalls leise miteinander, hier und da trinkt jemand ein Glas Wein oder einen Prossecco. Draußen wird geraucht. Es ist ein merkwürdiges Wetter heute, irgendwie grau und grell, ich hab ein bisschen Kopfweh, bin wetterfühlig. Passt wie die Faust aufs Auge. Oder das quengelnde, Wasser wollende Kind auf den nächtlichen Hinterhof. Abgestraft.

„Brief an den Vater“ von Franz Kafka feiert  heute  Premiere, die wilden Schwäne zeigen ein neues Stück. Der  Intendant des Landestheaters heißt alle Besucher willkommen und bittet uns, ihm zu folgen. Es geht hinaus, einmal um das Gebäude herum, zur Probebühne. Heute fühlt sich Theater so anders an. 

Vor dem Saal warten wir. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Dann sind die Schauspieler:innen bereit. Wir dürfen in den Saal, nehmen Platz. Das Licht ist aus, neben einem Holzblock, einem Couchtisch mit Computer und einem kleinen Sofa sehe ich zunächst: nichts. Dann fällt mir das Glashaus ins Auge. Ein gläsernes Gewächshaus. Es steht im hinteren Teil des sonst sehr schlauchigen Raums.  Ich frage mich, wie ich das übersehen konnte. Meine Begleitung lacht, sie fragt sich das auch.

Da sitzt jemand im Glashaus und wirft mit Worten

Das Licht wird abgedunkelt und es tritt auf: eine Videoinstallation. Eine Familienaufnahme vielleicht. Die Performance beginnt, eine Frau in langem Rock und weißem Mantel  erscheint. Während des Stücks zieht sie, den jungen Kafka verkörpernd, sich mehrmals um. Sie läuft um das Haus , hantiert hier und da herum. Begibt sich schließlich in das Glashaus, setzt sich hin.  Vielleicht liegt es am heutigen Tag, vielleicht auch am Stück selbst, aber ich bekomme das Gefühl, dass alles Gesehene zu einer einzigen, verrückten und anstrengenden Masse in meinem Kopf wird.

Während auf der Probebühne der:die junge Kafka sich an das „sinnlose Ums-Wasser-bitten“ erinnert, welches zur Folge hatte, dass er:sie des Nachts im Nachthemd hinaus auf die Pawlatsche getragen wurde, erinnere ich mich unweigerlich an eine Situation aus meiner Kindheit.

Wahnsinn, Erziehung und Zerschlagene Erdbeeren

Während die Hauptdarstellerin immer mehr aus Kafkas Brief vorträgt, sich umzieht, im Glashaus sitzt, es einnebelt, vorliest und jemanden singen lässt, fällt es mir immer schwerer zu folgen. Großartig und mitreißend gespielt, ist auch das Theater – gefangen sein in einer anderen Welt. Kind Kafka fühlt sich im Schwimmbad klein und schmächtig neben dem starken Kafka. Kafka im Glashaus macht, dass ich mich klein fühle. Als er:sie beginnt, im Kreis zu gehen, schneller, immer schneller sich dreht und schlussendlich in einem krampfhaften Schüttelanfall stehen bleibt, muss meine Begleitung lachen. Ich dann auch. Muss Theater immer so anders sein, fragt sie mich? Ich weiß es nicht. Vielleicht.  Bedrohliche Musik läuft an, eine Folie wird auf der ersten Reihe ausgebreitet, die Leute sollen ihre Kleidung schützen. Ich weiß nicht was passiert, bis ich die Erdbeere auf dem Holzpflock bemerke. Ich verstehe die Welt gerade nicht so richtig, Kafkas Brief an seinen Vater jedoch umso mehr. 

Still, Blau und Hell

Das Stück ist vorbei, wir gehen hinaus. Ich erinnere mich an meinen Vater und an die Schauspielerin. Wie stark sie sein muss. Im Foyer halten wir noch einmal an um etwas zu trinken, ich hole mir ein Stimmungsbild ein. Meine Begleitung fand das Stück beklemmend und laut, während eine junge Frau sich mehr Konflikte, mehr Reibung und mehr Expressivität gewünscht hätte. Ich sehe das anders, stelle mit meiner Begleitung später aber fest, dass vermutlich ein jede:r seine eigene Vater-Beziehung in dieses Stück legt und  sich vielleicht deswegen, mehr oder weniger, Lautstärke oder Stille wünscht. Wir gehen in den Abend hinaus, der Himmel hat sich aufgeklärt, die Vögel zwitschern und es ist hell und wir schweigen.

Ich bin das Ergebnis deiner Erziehung und meiner Folgsamkeit

Ich denke nach. Die Performance der wilden Schwäne war gewaltig, hat Kafkas Worten Leben, Trauer, Liebe, Schwäche und Stärke gegeben. Wer Lust auf schwere Kost und tiefe Gedankengänge hat, sollte sich das Stück unbedingt ansehen.

Die nächsten Termine sind: 10.05.2017, 20.00 Uhr, 19.05.2017, 20.00 Uhr, 24.05.2017, 20.00 Uhr, Ort: Probebühne, Am Schwanhof 68-72, 35037 Marburg.

Verantwortliche für Marketing und Akquise bei PHILIPP. Studiert Kunstgeschichte im Master. Hat ein Gründer:innenherz und liebt schöne Menschen, schöne Ideen und schönes Konfetti.

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