»Die momentane Situation in der Türkei ist surrealer als ein Literaturwerk«

»Die momentane Situation in der Türkei ist surrealer als ein Literaturwerk«

Ilgaz wohnt und studiert in Marburg, aber seine Heimat ist die Türkei. Dort verbringt er auch die Semesterferien bei seinen Eltern. Für PHILIPP schrieb er ein paar Zeilen über den momentanen Zustand des Landes unter Erdogan.

Es gibt ja solche Hollywoodfilme: am Abend passiert eine Katastrophe, in der Nacht wird dagegen gekämpft, am Morgen mit dem Sonnenaufgang ist die Welt gerettet, alle blicken mit Hoffnung in die Zukunft. Dass eine solche Situation nur im Film so dargestellt wird, wurde mir am Tag des Putschversuchs in der Türkei klar. Am Morgen des 16.07.2016 fühlte ich mich und meine Eltern für den Moment gerettet und war froh, dass wir uns endlich getroffen haben, aber erleichtert und hoffnungsvoll war ich gar nicht.

Rätselhafte Ereignisse

Aber mal vom Anfang: So ein Glückspilz, wie ich bin, habe ich es geschafft, innerhalb der ersten Stunde des Putschversuchs mit dem Flugzeug aus Deutschland in Istanbul zu landen. Vor dem Flughafen standen Tanks, kein Auto konnte rein- oder rausfahren. Man konnte nur zu Fuß rausgehen, aber was draußen passieren würde, war unklar. Meine Eltern blieben acht Kilometer entfernt vom Flughafen auf der Autobahn stecken. Ich blieb im Flughafen, sie im Auto, draußen wurde die ganze Nacht lang geschossen (anscheinend in die Luft: später sahen wir keine Toten auf der Straße). Am Morgen zogen die Tanks endlich zurück, wir fuhren nach Izmir, dort war es ruhiger.

Es ist jetzt einige Wochen her, vieles scheint aber noch im Unklaren zu sein. Ich bin noch in der Türkei und einiges kann ich sagen: Diese Situation, wie viele andere gesellschaftliche und politische Situationen, scheint mehr Interpretationsmöglichkeiten zu haben, als surreale Literaturwerke. Jede:r hat eine andere Meinung davon, was tatsächlich passiert ist und warum, jede:r konzipiert sich seine:ihre eigene Verschwörungstheorie. Jeden Tag kann man zu einer anderen Möglichkeit wechseln. Der Grund dafür ist vielleicht, dass die Wahrheit weniger Sinn ergibt, als all die Theorien.

Der Alltag im Ausnahmezustand

Für mich ergibt vieles keinen Sinn, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin. Höchstens und ganz verallgemeinert: eine lange Geschichte, die schlecht geendet hat, eine Verdorbenheit, die wahrscheinlich zu neuen Verdorbenheiten führen wird. Das ist auch eine Liebesgeschichte zwischen zwei damaligen Alliierten, deren Trennung viele Menschen das Leben gekostet hat. AKP (die „Islamisch-Nationalistische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) und FETÖ (die Bewegung von Fethullah Gülen) hatten einander bis vor drei Jahren immer unterstützt. Die Festnahmen und Suspendierungen wirken für uns umso absurder, da viele Festgenommenen und Suspendierten damals von der AKP-Regierung in ihre Positionen gebracht wurden. Man kann also nie gefallen.

Ob die Maßnahmen gerecht sind, kann man nicht fragen, es herrscht ja immer noch »Ausnahmezustand«. Die Regierung kann ohne entsprechende parlamentarische Ermächtigungsgesetze regieren; bestimmte Grundrechte können eingeschränkt werden; Demonstrationen und Kundgebungen sind verboten; die Polizei darf alle und alles durchsuchen. Von den Maßnahmen ist jede:r betroffen, egal ob man etwas mit dem Putsch zu tun hat, AKP-Gegner:in ist oder nichts-wissend-tuende:r Bürger:in. Wer mit der FETÖ (so nennt man die Putschorganisation hier) zu tun hat, kann verhaftet oder entlastet werden. Besonders ist bei diesen Festnahmen, dass die Haftdauer länger als normal ist – egal, ob es einen Beweis gibt, oder nicht. Man muss auf der Straße immer den Personalausweis bei sich tragen, falls einen die Polizei kontrollieren will, was ich allerdings noch nicht erlebt habe.

Verunsicherung im Land

Man hat sogar Angst zu sterben, im »Ausnahmezustand« würde vielleicht die Todesursache nicht untersucht werden. Eine Zeit lang wussten Studierende nicht, ob sie weiterstudieren können, da ihre Universitäten geschlossen wurden. Nun ist klar: Die Studierenden werden auch in der eigenen Stadt an anderen Universitäten studieren können. Dort werden für sie Veranstaltungen organisiert. Den Abschluss werden sie von einer gleichrangigen Hochschule bekommen, die auch in einer anderen Stadt sein kann.

Komischerweise sind wir – damit meine ich die Mehrheit der Menschen in der Türkei, unabhängig von den politischen Ansichten – aber froh: Wir sind seit den letzten Jahren in einer solchen Lage, dass wir uns jetzt sehr wohl damit abfinden können, dass zumindest kein Bürgerkrieg ausbrach. Die allgemeine Stimmung gegenüber Erdogan ist in Anbetracht der Tatsachen positiver. Jede:r hier ist letztendlich der Meinung, dass die gewählte Erdogan-Regierung besser als ein Putschregime ist. Es gibt hier eher wenige Leute, die daran glauben, dass Erdogan den Putsch selbst konzipiert hat.

Die Menschen sind unruhig, das hat aber nicht nur mit dem Putschversuch zu tun, sondern auch mit den Terroranschlägen in dem letzten Jahr. Sonst, natürlich wenn man nicht verhaftet oder entlastet wurde, ist der Alltag wie immer. Man weiß ja, es gibt viel Schlimmeres.

FOTO: CC duncan c auf flickr.com, Ausschnitt

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