„Das Paket ist angekommen“
In der Unterwäsche hatte ihre Mutter die wichtigsten Papiere nach West-Berlin geschmuggelt und dort deponiert. Kurz vor dem Mauerfall flüchtete sie 1989 über Ungarn aus der DDR. Damals war sie 26, der Unfreiheit überdrüssig und verliebt in einen „Wessi“. Heute hat sie selbst Töchter und erzählt der Älteren von beiden, wie das damals so war, vor 25 Jahren. Als die Mauer fiel.
Mama, der 9. November 1989 jährt sich zum 25. Mal. Wo warst du damals?
Da war ich mit deinem Vater im spanischen Party-Ort Lloret de Mar. Und naja, da saßen wir beim Spanier und sahen im Fernsehen wie die Mauer fällt und natürlich dachte ich: „Das gibt’s doch gar nicht“, weil ich in dem Sommer ja geflüchtet bin, und ich mir erstmal gedacht habe: Hätteste dir eigentlich sparen können. Weil ich ja auch noch total fertig war. Ich habe aber auch gedacht: Ach wie schön, weil ich wusste, dass ich dann zur Weihnachtszeit meine Eltern besuchen konnte. Ich war endlich ein freier Mensch.
Kannst du beschreiben, wie sich das angefühlt hat, so frei zu sein?
Wie wenn man Bungeejumping macht, so fassungslos. Weil ich’s einfach nicht geglaubt hab‘, dass das passiert und dann war ich auch so traurig, dass ich so weit weg war.
Hast du Freunde, die da waren und mit denen du gesprochen hast?
Konnte ich ja nicht. Aber natürlich wollte ich anrufen. Aber wir hatten ja noch keine Handys wie heute. Und wenn ich meine Eltern angerufen habe, wusste ich ja, dass es abgehört wird. Als ich zum Beispiel ausgereist bin, hatte ich ein 14-tägiges Visum, und am 15. Tag, als es abgelaufen war und ich nicht zurück gekommen bin, stand die Polizei sofort bei meinen Großeltern vor der Tür und hat gefragt, wo ich bin. Und dann haben meine Eltern gelogen und gesagt: Das wissen wir nicht, sie lebt unabhängig in Berlin.
Die Tür ihres Elternhauses ist heute noch dieselbe wie damals. Noch immer leben ihre Eltern in ihrem kleinen Einfamilienhaus in Eisenhüttenstadt, nahe an der polnischen Grenze. Fliehen kam für sie nie infrage, sie hatten sich irgendwie eingerichtet, im DDR-Staat. Er war ihre Heimat.
War das deine einzige Erfahrung mit einer Behörde während deiner Flucht?
Immer wenn du als DDR-Bürger ausgereist bist, musstest du das beantragen. Dann hast du in deinen Ausweis etwas reingestempelt bekommmen. Und in Ungarn, wo ich für die DDR noch offiziell „Urlaub“ gemacht habe, aber eigentlich schon auf der Flucht war, und mich dann bei der Botschaft in Budapest gemeldet habe, hieß es dann: Die Botschaft ist voll. Sie haben mich weiterverwiesen ins Auffanglager am Balaton mit einem Zaun rings herum. Da war meine Erfahrung mit der DDR-Justiz dann die, dass die Stasi-Leute da immer wieder Flugblätter rüber geworfen haben, auf denen stand: „Kommt nach Hause, euch passiert nichts.“ Weil die genau wussten, dass da DDR-Flüchtlinge sind.
Republikflucht zu verhindern stand ab Mitte der 1970er Jahre im Mittelpunkt der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Stasi hatte im Frühjahr 1975 auf Anweisung von Erich Mielke eine „Zentrale Koordinierungsgruppe Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung“ (ZKG) geschaffen, der 1989 rund 450 Mitarbeiter angehörten.
Wie lange warst du denn in diesem Lager?
Bestimmt drei Wochen. Deshalb habe ich auch irgendwann einen Lagerkoller bekommen und bin mit Michael, meinem Kumpel, mit dem ich schon die ganze Zeit unterwegs war, mit dem Zug an die Grenze. Und naja, dann sind wir in den Wald, um rüber nach Österreich zu fliehen. Nur stand da dann leider die ungarische Armee mit Gewehren vor uns. Michael war total geschockt und riss die Arme hoch, sagte was von wegen „Nicht schießen!“ und ich stand daneben und habe einfach angefangen zu lachen. Mehr ist aber nicht passiert. Die Soldaten haben uns dann auf die Wache gebracht und uns zu Essen gegeben.
Mehr ist wirklich nicht passiert?
Naja, der Chef von denen hat uns gefragt, was wir da machen wollten und wir waren ehrlich, weil es offensichtlich war: Wir wollten flüchten. Er meinte dann aber zu uns: Bitte gehen Sie ins Lager zurück, es erwartet uns alle eine politische Entscheidung. Dann sind wir also wieder zurück ins Lager gefahren – übrigens mit einer bezahlten Rückfahrkarte der ungarischen Soldaten, weil wir selbst kein Geld mehr hatten. Und als es dort dann ein paar Tage später hieß, Ungarn macht die Grenze auf, sind die örtlichen Ungarn zu uns mit Lichtern und Getränken ins Lager gekommen und wir haben alle eine riesige Party veranstaltet. Während die ersten Trabbis und Wartburgs übrigens schon Richtung Grenze gestartet sind.
In der Nacht zum 11. September öffnet Ungarn die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger. Zehntausende von ihnen reisen in den nächsten Tagen und Wochen über Österreich in die Bundesrepublik aus. Michail Gorbatschow bestätigt später, dass die Ungarn diesen Schritt taten, ohne um eine Erlaubnis aus Moskau zu bitten.
Warst du da auch dabei?
Nein, ich bin erst später gefahren. Glücklicherweise hatte ich ja eine Kontaktperson im Westen, meinen Freund und deinen Vater. Bis ich da ankam, hat es aber noch einige Zeit gedauert. Erst sind wir nach Wien, wo ich übrigens erst mal in eine Telefonzelle bin und bei meiner Großmutter in Berlin angerufen habe und gesagt habe: „Das Paket ist angekommen.“
„Das Paket ist angekommen“?
Ja. Das war unser Geheimcode dafür, dass ich es geschafft hatte, und sie das an meine Eltern weiterleiten konnte. Weil man ja, wie gesagt, immer damit rechnen musste, dass alles abgehört wird.
Okay. Und wie ging’s nach Wien dann weiter?
Dann sind wir erst mal alle in Auffanglager nach Freilassing, Bayern gekommen, wo wir als BRD-Bürger registriert wurden und 100 Mark Begrüßungsgeld bekamen. Und von dort sind dann alle je nach ihrem jeweiligen Zielort weitergefahren. Nachdem wir uns in der örtlichen Kleiderkammer mit Turnschuhen berühmter Sportartikelhersteller eingekleidet hatten.
Warum bist du geflohen?
Ich wollte einfach nur noch raus. Ich habe in der DDR einfach keine Zukunft gesehen. Und nachdem ich deinen Vater in Berlin kennen gelernt habe war’s dann für mich amtlich: Ich geh‘ in den Westen, egal wie.
Wie lange hast du deine Flucht vorbereitet?
Mehr als ein Jahr. Erst wollte ich ja über Polen flüchten. Dein Vater wollte mir falsche Pässe besorgen. Die Leute, die er bestechen wollte, wollten dann aber nicht mehr, so dass ich dann noch warten musste. Ich saß also schon lange auf gepackten Koffern. Deine Omi hat ja auch schon ein Jahr vorher, heimlich vor meinem Vater übrigens, meine Geburtsurkunde und schulische Unterlagen nach Westberlin rausgeschmuggelt. Und bevor du wieder fragst wo: in ihrer Unterwäsche.
Und wie kam’s dann dazu, dass du gerade angekommen in der BRD, direkt erst mal nach Spanien bist?
Das war ganz lustig. Ich war auf einer Kirmes, dann ja endlich bei deinem Vater in Niedersachsen zu Hause, und dort habe ich den Hauptpreis gewonnen: Eine Reise nach Lloret de Mar. Und mal ehrlich, Katharina, was hättest du denn gemacht? Wenn du jahrelang in deinem Reisen eingeschränkt wirst und sich dir dann so eine Möglichkeit bietet? Ich konnte ja immer nur in der Sowjetunion herumreisen! Dass genau während dieser Reise dann die Mauer fallen würde, wusste ich ja auch vorher nicht. Aber genau deswegen kommt mir vielleicht auch immer wieder dieses Bild in den Kopf. Wie ich beim Spanier sitze und im Fernsehen die Menschen vor dem Brandenburger Tor und auf der Mauer stehen.
Zuerst veröffentlicht wurde dieses Gespräch auf mitmischen.de.
FOTO: Raphaël Thiémard auf flickr.com, CC-Lizenz.
PHILIPP-Gründerin und Chefredakteurin von 2014 - 2017.