In Echtzeit

In Echtzeit

Die Elektroszene blüht in Marburg und die Jungs und Mädels hinter den inzwischen zahlreichen Projekten sind noch längst nicht müde, weiterhin ordentlich auf den Putz zu hauen. Und so hat, wie so viele Party-Kollektive in diesem Jahr, auch ECHTZEIT den einjährigen Geburtstag hinter sich gebracht. PHILIPP war natürlich mal wieder mit von der Partie und zeigt euch abermals, wer und was da eigentlich hinter steckt.

Die Zeit ist eine physikalische Größe. Sie verläuft linear in eine unumkehrbare Richtung. Einfacher gesagt: Wenn die Zeit einmal verstrichen ist, dann war’s das. Und alles, was dann noch von ihr übrig ist, sind Erinnerungen in Gestalt von derlei Dingen wie Gedanken, Fotos, Videos oder Gegenständen. Zeit hat deswegen auch immer etwas Tragisches, weshalb man vielleicht sogar sagen könnte, dass sie der entscheidende Motor ist, der uns Menschen dazu antreibt, die Dinge zu tun, die wir tun.


Die rasenden Reporter*innen Pat und Jaqui waren wieder unterwegs. Diesmal wollten sie herausfinden, was echte Zeit ist.

Echte Zeit leben. Genießen. Alle Sinne ausreizen. Der Vergänglichkeit etwas entgegensetzen. Feiern. So oder so ähnlich könnte man auch ganz gut den Geist beschreiben, der hinter der elektronischen Clubkultur steckt. Oder ihn sogar so nennen? In Marburg gibt es jedenfalls ein Kollektiv, das sich konkret nach dieser Philosophie getauft hat: ECHTZEIT. „Beim Tanzen lebt man Zeit. Es geht darum, manche Sachen einfach mal zu vergessen und sich in dem Moment wiederzufinden“, erklärt Lennart und schiebt hinterher: „Wir versuchen den Leuten damit irgendwie näher zu bringen, auf einer Party zum Beispiel das Handy einfach mal wegzulegen und diese Zeiten vielleicht ein bisschen intensiver zu leben.“

Der 23-Jährige Lennart ist gemeinsam mit seinem BWL-Kommilitonen und Tunnel-Besitzer Jonathan (24) der Initiator von ECHTZEIT. Nur zu zweit sind sie aber nicht. Recht bald kam dann noch Arwed hinzu, den Jonathan in der Bib anquatschte. Der 30-Jährige steht bereits seit zwölf Jahren hinter dem DJ-Pult und hatte so, zumindest „was das Technische angeht, am Anfang die Nase ein bisschen vorne.“ Schnell war klar, dass das Trio funktioniert und so schmissen sie im Mai 2014 schließlich das erste Fest im Knubbel, das im Übrigen direkt mit einer grandiosen Afterparty mit zwei Anlagen und Lagerfeuer bei der Marbacher Grillhütte endete.

 Das perfekte Ambiente

Zu ihrem einjährigen Geburtstatg ist ECHTZEIT umgezogen. Raus aus dem Knubbel und rein in die Räumlichkeiten des G-Werks, längst bekannt in Marburg. Beinahe ausnahmslos waren die Studis der Stadt mindestens einmal vor Ort: Im schönen großen Saal des Trauma, mit seinem Podest; der kleine Aufenthaltsraum mit den schmuddlig aussehenden Sofas; den Vorderhof, auf dem diese Mauer steht, die im Grunde völlig sinnlos erscheint, dafür aber stets faszinierende Graffiti trägt und natürlich die Baaribar, der kleine gemütliche Raum, der oft völlig übersehen wird. Und schließlich noch der Trauma-Garten. Garten? Wie, Garten? Ja, ein richtig schöner sogar. Groß ist er, mit viel Grünfläche und Sitzgelegenheiten. Er gerät nur eben gerne in Vergessenheit, wenn die Dunkelheit ihn verschluckt und er – meist aufgrund von Lärmempfindlichkeit der Nachbarin – auf Partys leider nicht geöffnet werden darf.

In all dem sah ECHTZEIT die perfekte Kulisse für ihren Traum von DER Party, auf die sie schon so lange Bock hatten und mit der sie ordentlich feiern konnten, dass sie inzwischen schon ein Jahr zusammenarbeiten. „Die Location hier ist einfach bombe!“, findet Lennart und Jonathan erklärt: „Für uns ist das auch die einzige in Marburg, wo man sowas machen kann, wo sowas hin passt.“ Sowas heißt für die Jungs groß, laut und vor allem lang. Ganze 24 Stunden, von Freitag 20 Uhr bis Samstag 20 Uhr, wollten sie ihren Gästen auf zweieinhalb Floors einen Raum zum Feiern bieten. Das ist selbst für Marburg etwas Neues. Zumindest im offiziellen Rahmen. Geklappt haben wird dieses Vorhaben am Ende nicht ganz, doch ein Erfolg wird der Abend trotzdem gewesen sein. 717 Menschen sagten alleine der Facebook-Veranstaltung zu. Etwa 800 zählen die Türsteher schließlich am Abend.

Die Ruhe vor dem Sturm

Samstag, 18 Uhr. Die letzten Handgriffe werden getätigt und im Trauma-Garten riecht es nach Spießen mit Gemüse, Fleisch und Nudelsalat. Man möchte noch mal gemeinsam essen. Ruhe vor dem Sturm und so. Und während die Sonne hinter den Hügeln langsam untergeht, trudeln auch endlich die DJs aus Berlin und Leipzig mit ihren Rollkoffern ein. „Denen müssen wir genug zu Essen überlassen, die haben immer Kohldampf“, sagt Lennart, während um ihn herum die Farbe auf den Echtzeit-Buchstaben trocknet und die letzten Matratzen unter das riesige weiße Tipi-Zelt gehievt werden. Am Samstagmorgen werden schlappe Gemüter darunter liegen, die den noch immer Tanzwütigen im Vorhof des Traumas Platz gemacht haben. Denn dort wird ab 9 Uhr unter dem gelb-roten Zirkuszelt nicht mehr gechillt, stattdessen dröhnt nun auch hier der Bass aus den Boxen.

Zwei Uhr. Die Party ist in vollem Gang. Auf den Bändchen, die an diesem Tag ausgeteilt werden, prangt in großer Serifenschrift „ECHTZEIT“, abgestimmt auf den schlicht gehaltenen Flyern und Plakaten mit dem großen Vogel in Vektorkluft. Die kreativen Köpfe dahinter sind übrigens Marius Schemenauer und Marvin Ruppert. Oder wie Jonathan erzählt: „Marius liefert die Bilder, Marvin das Know-How, das Design und sein MacBook und wir stehen einfach drumherum und meckern und sagen da muss das noch und das.“ Diesmal mussten sie aber nicht viel meckern, kaum eine Stunde haben sie gebraucht. Minimalismus gewinnt mal wieder.

Um zu lesen, wie einige der DJ*anes die Party wahrgenommen haben: Einmal auf das entsprechende Bild klicken!

Spätestens um drei Uhr ist die Party schließlich richtig voll. Vor dem Torbogen, der als Zutrittsfläche dient, wird die Schlange immer länger und so manches Echtzeit-Bändchen nicht mehr für neun, sondern für 15 Euro gehandelt. Insidern zufolge wird hier inzwischen sogar aussortiert: Männergruppen werden teilweise nicht mehr reingelassen. Cool ist das nicht. Aber vielleicht auch unvermeidbar, wenn man sich ein ordentliches Verhältnis wünscht. „20% Frauenanteil halten wir für keine gute Mischung.“, äußert sich dazu Jonathan und erklärt: „Das hat auch nichts mit Sexismus zu tun.“ Man solle halt einfach mal früher kommen. Letztendlich kamen die Jungs aber auch noch rein. Drinnen bekommt von all dem niemand etwas mit. Hier findet weiterhin die ständige Wanderung der Tanzfreudigen zwischen Baaribar und Trauma statt, während die Sofas im Vorhof und das Lagerfeuer in der Ecke von Pausemachenden okkupiert werden.

„Die Musik steht maximal im Fokus“

Das auch bei Echtzeit elektronische Musik gespielt wird, ist inzwischen nicht mehr verwunderlich. Die Szene brodelt in Marburg. Vor zwei Jahren war das noch nicht so. „Es hat sich auf jeden Fall was entwickelt!“, sagt Lennart. „Wir versuchen ja einfach, wirklich gute Musik nach Marburg zu bringen. Es geht ja letzlich um nichts anderes. Wenn die Leute Spaß haben, dann haben sie Spaß, weil sie die Musik feiern. Das Drumherum ist zwar alles schön und gut, aber letztendlich steht die Musik maximal im Fokus.“ In diesem Sinne steht in ihrer Facebookveranstaltung auch „mehr Musik, weniger Lollis“. Ein kleiner Seitenhieb auf Marbylon? „Das ist halt ’ne andere Art des Partymachens“, meint Jonathan. „Aber ich find’s geil! Es mögen sich alle, da herrscht keine Rivalität oder sowas.“ Immerhin sei auf ihrer Party auch einiges von Marbylons diversen Party-Utensilien, so wie zum Beispiel das DJ-Duo Aktiv&Anregend, vorhanden. Sowieso, in der ganzen Baari-Bar stehen Local-DJ’s an den Decks. Ein bisschen Trauma für alle eben.

Fünf Uhr. Der Strom an Menschen, der während des ganzen Abends von der Baari-Bar in den großen Traumasaal wandert, wird so langsam ein bisschen dünner. Ein Typ, Mitte zwanzig und mit Holzfällerbart trägt eine Ananas mit sich rum und fragt jede Person, die er trifft, nach einem Messer. Nach ein paar irritierenden Blicken wird er fündig. Ein anderer Typ rennt mit einem langem Schal überm Kopf durch die Gegend. Irgendwann beginnt er, den Vorhof zu fegen. Das ist Jonathan. Der „Marktplatz“, wie ihn die Jungs nennen, wird jetzt nämlich für den morgendlichen Neuaufbau vorbereitet. Die mit Pflanzen behangene „Serotoninbar“ bietet leckere Shakes und Wraps und Moritz Maaß, auch bekannt vom Partykollektiv Cloudcuckooland, bereitet seine Platten am DJ-Pult unterm Tipi-Zelt vor.

13:33. CoMMoDuS, namhaft durch die Psycholectro Society, lässt sein letztes Lied ausklingen. „Jetzt muss jemand anderes übernehmen!“, ruft er, doch niemand kommt. Stattdessen bewegt sich Johathan auf die Tanzfläche und richtet sich an seine Gäste.  „Leute, ich muss die Party hiermit leider beenden!“, sagt er und schaut bedauernd in die Runde. Die Nachbarin habe sich beschwert. Rausschmeißen wird er aber niemanden. Und so bewegt sich auch niemand von den Plätzen. Knapp fünf Stunden lang konnten die DJ*anes die Stimmung im Vorhof noch mal anheizen. Auch wenn inzwischen mehr die Sofas und Matratzen bevölkert wurden. Ganz aus ist die Party aber trotzdem noch nicht. 24 Stunden hieß es, und dabei soll es fast auch bleiben. Die immer noch nicht Müden, wenn auch merklich geschrumpft in der Anzahl, konnten irgendwann doch noch mal in der Baaribar austanzen. Bevor es schließlich wieder zurückging. In die echte Zeit.

AN DEN DECKS
Saal: Beddermann & Dahlmann (Plötzlich Musik/Berlin) Edler & Meerkats (Plötzlich Musik/Berlin) Licht & Foolik (Sisyphos /Berlin)
Baaribar: arwed (Echtzeit/Marburg), Aktiv & Anregend (Marbylon/Marburg),
NICVD (Cloudcuckooland&Marbylon/Marburg), LexLuc (Echtzeit/Marburg), Strohhalm von Löschpapier (Rhythmusgiganten/Marburg),  Isabeau Fort (CloudCuckooland/Marburg), Makabär (Marburg) Nikolas Noam (Union Jack Record/Leipzig)
Vorhof: Moritz Maaß (CloudCuckooLand/Marburg), CoMMoDuS (Psycholectro Society/Marburg)

Ein Statement des Traumas, wie sie die Party (Türpolitik, etc.) einordnen, blieb bis zum Ende unserer Recherchen leider aus.

FOTOS: Luis Penner
VIDEO: Luis Penner
PODCAST: Jaqueline Ahuraian und Patrick Vogel

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